Bote ins Jenseits
warf einen letzten Blick auf die Adresse, obwohl er sie schon längst in- und auswendig kannte, schaltete seinen Rechner aus und machte sich auf die Socken. Seine Sinne waren erfreulich geschärft. Wenn er nicht zuließ, dass seine Angst ihm das vermasselte, konnte es klappen, und zwar ohne von irgendjemandem gesehen zu werden.
Der arme Kerl konnte nicht wissen, dass er zu Beginn seiner Fahrt in den Kölner Stadtteil Sülz, dem Wohnort des Verkäufers, schon seit über einer Stunde unter Beobachtung stand und dies selbst mit der professionellsten Ausbildung nicht bemerkt, geschweige denn verhindert hätte.
Gregor hatte ihn kurz vor Dienstschluss in der Sparkassengeschäftsstelle am Neumarkt abgefangen. Sein erster Weg, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Bindernagel noch da war, führte ihn in die Herrentoilette der Sparkasse. Dort zog er sich aus, drapierte seine Kleidung fein säuberlich auf dem Klodeckel und wechselte innerhalb weniger Sekunden in einen luziden Zustand – er wurde zum Geist.
Botenakademie, zehntes Ausbildungsjahr.
Anschließend eilte er zurück zu Bindernagel und wurde zu seinem zweiten Schatten – einer, vor dem der sich wirklich fürchten durfte. Gregor nutzte die Fahrt, um sich ausgiebig bei seinem guten Näschen zu bedanken. Nachdem Bindernagel von der Arbeit heimgefahren war und sich kurz umgezogen hatte, ging er direkt an seinen Rechner und öffnete eine Mail, die dem Boten so ziemlich alles offenbarte, was er wissen musste. Hier war etwas in Gange!
Gregor hatte sich zeit seines Lebens – nur wenige Monate – nicht am Fortpflanzungsprozess der Menschen beteiligen können, aber er wusste, dass es ein gutes Dreivierteljahr dauerte, um das Ergebnis einer erfolgreichen Befruchtung in Empfang nehmen zu können. Außerdem wusste er, dass dieser Bindernagel immer noch seiner Ex-Freundin – inzwischen auch Kamps Ex-Freundin – hinterherstieg. Der Kerl ließ zwar, gemäß Kamps Erzählungen, nichts anbrennen, aber wenn jemand so besessen von einem bestimmten Menschen war, schloss sich eine neue ernsthafte Beziehung aus. So viel hatte Gregor in zweihundertfünfzig Jahren als Vergeltungsbote über Typen von Bindernagels Sorte gelernt.
Was für einen Grund konnte der Kerl also haben, einen Kinderwagen zu ersteigern? Möglicherweise ein Geschenk für seine Schwester oder Cousine oder wen auch immer. Vielleicht auch eines für eine Mitarbeiterin in froher Erwartung, gesponsert von ein paar Kollegen, und Bindernagel hatte lediglich den Auftrag, das Ding zu besorgen.
Aber Gregors Gefühl sagte ihm etwas anderes.
Zu seiner großen Freude konnte er der Mail auch entnehmen, dass die Übergabe dieses Kinderwagens kurz bevorstand, und spätestens jetzt, da sie bereits auf dem Weg dorthin waren, gelangte Gregor zu der endgültigen Gewissheit, dass hier mehr im Spiel war, als die simple Übergabe des ersten fahrbaren Untersatzes für ein Neugeborenes.
Bindernagel war einfach viel zu nervös.
Ihn zu beobachten, machte sogar Gregor kribbelig. Bindernagels Kopf und auch seine Augen schossen hin und her, als wollte er versuchen, alles um sich herum auf einmal zu registrieren und bloß nichts zu übersehen. Seine Hände standen praktisch nicht still, waren ohne Pause in hektischer Bewegung, trommelten auf dem Lenkrad, zupften ohne ersichtlichen Grund an seiner Kleidung, justierten den Rückspiegel wieder und wieder neu und wischten den permanent laufenden Angstschweiß von der Stirn.
Gregor musste sich schließlich zwingen, ihn nicht mehr zu beobachten, da er nach einer Weile den Drang verspürte, zu materialisieren und den Zappelphilipp vor ihm mit einem gezielten Schlag außer Gefecht zu setzen.
Es bestand kein Zweifel, Bindernagel hatte etwas vor, von dem er wusste, dass es gefährlich war.
Die Übergabe des Kinderwagens an sich verlief unspektakulär. Die anfängliche Freundlichkeit des Verkäufers, wich schon nach wenigen Minuten einer pragmatischeren Einstellung, da Bindernagel sich keine allzu große Mühe gab, diese Freundlichkeit zu erwidern.
Der Kinderwagen wurde, ohne dass Bindernagel ihn auch nur eines prüfenden Blickes würdigte, übergeben, und er rückte beinahe gleichgültig das Geld raus.
Gregor fragte sich bereits, was um alles in der Welt dieser Auftritt zu bedeuten hatte, und gab sich ersten Zweifeln hin, ob er die Situation wirklich richtig eingeschätzt hatte. Erst als sie die Wohnung des Verkäufers wieder verließen, kam er endlich dahinter, worum es hier gehen
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