Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
Privatgrundstücke betraten, war ihnen zwar bewusst, aber es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, wenn sie parallel zur Steigung gehen wollten. Denn die Straßen verliefen nur von oben nach unten, ohne öffentliche Querverbindungen.
Séforas Instinkt begann, Alarm zu schlagen. Dieses Labyrinth war der ideale Ort für eine Falle.
Ein trübes Licht führte sie zu einem der Mausoleen. Das Bauwerk, das sich mit dem Wohnhaus der Familie, in deren Obhut es stand, eine Wand teilte, bestand aus dem klassischen oktogonalen Turm mit blauer Kuppel und Steinkreuz, nur die Basis unterschied sich von den anderen Grabmälern: Sie verfügte über mehrere Säulen, die sich hervorragend als Versteck eigneten.
Und als solches diente es offensichtlich auch.
Séfora richtete den Spiegel auf die Schatten. Ein schwacher goldener Glanz ging von ihm aus, keiner, der dem Dämon (sollte er es sein, der sich dort versteckt hielt) etwas hätte anhaben können, aber doch stark genug, um ihn herauszulocken. Die Temperaturen lagen ein paar Grad unter den ortsüblichen.
Was der Spiegel ihnen zeigte, war jedoch keine entsetzliche Kreatur mit Hörnern und Narben, sondern ein Junge, der vornübergebeugt auf dem Boden kauerte, die Arme um den Körper geschlungen, den Kopf zwischen den Knien. Er war nicht allein. Hinter ihm befand sich noch jemand, von dem man schwer sagen konnte, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, denn sie trugen beide exakt die gleiche Kleidung. Die Haare, die ihnen wie ein Vorhang schräg ins Gesicht fielen, waren tiefschwarz. Die zweite Person lag ausgestreckt auf der Erde, als würde sie schlafen. Der Brustkorb bewegte sich kaum.
»Hallo?«
Séfora zog es vor, sich bemerkbar zu machen, wenn auch keiner der beiden auf ihr Rufen reagierte. Sie verharrten reglos in derselben Position, als wäre ihr Geist allzu sehr versunken in den trüben Gedanken, um sie jemals wieder heraus ans Licht zu holen.
Sie wollte gerade auf die beiden zugehen, um den Körperkontakt zu suchen, als Ninive rief: Warte! Zum Allmächtigen, Séfora, sieh dir seine Aura an.
Séfora richtete den Spiegel auf den Jungen und betrachtete seine Spiegelung.
Die Ungläubigkeit musste ihr ins Gesicht geschrieben stehen, denn Tanya und Erik fragten besorgt: »Was ist los? Ist es eine Falle?«
»Wir sind zu spät«, sagte Séfora.
Vielleicht nicht. Ich kann den Desmodu nirgends spüren. Er scheint nicht hier zu sein.
»Und wie erklärst du dir dann das ?«
Tanya hielt die Spannung nicht mehr aus.
»Wovon redet ihr?«, fragte sie leise kreischend. »Séfora, bitte, quäl uns nicht weiter und sag endlich, was los ist.«
Der Engel beachtete sie nicht. Sie ging zu dem Jungen und berührte ihn an der Schulter. »Geht es dir gut? Können wir dir helfen?«
Der physische Kontakt zeigte seine Wirkung. Mit großer Mühe hob der Junge den Kopf, als lastete die ganze Welt auf ihm.
Séfora war erstaunt: Lange Tränenbäche hatten in seinem geschminkten Gesicht Spuren hinterlassen, die das Ausmaß seines Leidens zum Ausdruck brachten. Er hatte viel und lange geweint, so lange, dass sich die Augenringe, die früher einmal aufgemalt waren, inzwischen tief in sein Gesicht eingraviert hatten. Der Junge war keineswegs hässlich. Er war ungefähr sechzehn, schmal gebaut, mit hängenden Schultern. Die fein gezeichneten Brauen verliehen seinem Ausdruck eine düstere Note, und das halblange glatte Haar verdeckte wie ein Vorhang eine Hälfte seines Gesichts. Auch die Kleidung passte perfekt zu einer gepeinigten Seele: Er trug ein graues Sweatshirt mit aufgedruckten Totenköpfen und eine Röhrenjeans mit Nietengürtel.
Vor allem aber fielen Séfora die vielen Schnittwunden an den Unterarmen auf. Sie waren oberflächlich und nicht mehr frisch, und auf den ersten Blick sah es so aus, als hätte er an sich selbst seine Fähigkeiten als Tätowierer ausprobiert.
»Meine Güte, was hast du gemacht, Junge?«
Die einzige Antwort war ein leises Wimmern. Sosehr er sich auch anstrengte, er brachte kein einziges Wort heraus.
Erst als Séfora und Tanya sich zu beiden Seiten neben ihn knieten und ihn stützten, stammelte er: »Es ist … einfach … zu traurig …«
»Was denn?«, fragte Tanya. Sie war von der eindrucksvollen emotionalen Aura des Jungen so sehr eingenommen, dass ihr die Tränen in den Augen standen.
Der Junge ließ wieder den Kopf hängen und antwortete mit dünner Stimme: »Das Leben.« Er presste sich die Fäuste an die Schläfen und schlug sich dann
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