Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
letzte Spritze geben, die alles ein für alle Mal beenden würde.
Die Tür kam immer näher. Mit glasigen Augen starrte er auf das Symbol auf der Frontseite.
Eine obsidianfarbene Flamme.
»Die … Schwarze … Flamme …« Die Worte kamen stoßweise, als würde die Luft nur zufällig auf seine Stimmbänder treffen und die Bedeutung mit sich selbst aushandeln.
Eine Hand drehte den Türknauf und öffnete die Tür. Es war seine Hand.
Zu seinem unermesslichen Bedauern trat Mauro ein.
Jemand wartete auf ihn.
Das Zimmer war ein Hindernisparcours medizinischer Gerätschaften, die auf dem Boden verstreut lagen, als hätte ein Verein leichtsinniger Ärzte sie dort fallen gelassen, um den Patienten eine Falle zu stellen. Ein Fernseher zeigte einen toten Sender, nur Schnee und ab und an ein paar Farben, die im Nichts verschwanden und kurz darauf wieder aufblühten. Karmin, Saphir, Türkis …
» Komm .«
Eine ältere Frau saß mit dem Rücken zur Tür auf der Matratze. Unter dem Kittel blitzte ein Stück Haut hervor, das von Eiterbläschen übersät war. Im Zimmer stank es nach Schweiß und verdünntem Alkohol. Sie war keine Patientin des Krankenhauses, sondern das Phantom, das ihn verführte.
»Endlich bist du gekommen. Ich warte schon so lange auf dich …«, seufzte die Frau.
Mauro spürte, wie sich alles in ihm verkrampfte. Er wusste, dass er diese Stimme schon einmal gehört hatte: Es war die Schwarze Flamme, die Seele, die ihn von allen, die er je gehört hatte, am eindringlichsten anflehte. Er hatte oft versucht, dieser gepeinigten Seele ein Gesicht zu verleihen, aber so hatte er sie sich komischerweise nie vorgestellt, als einsame Frau, von der Familie verlassen, von den Ärzten vernachlässigt und sogar ausgestoßen aus der Gemeinschaft des elenden Krankenhauses, in dem sie dahinvegetierte.
Er fragte sich, welche Umstände dazu geführt haben mochten, dass sie sozusagen im Trockendock des Lebens festsaß, und ob es in diesem Stadium überhaupt noch der Mühe wert war, etwas zu tun.
Sie sah ihn an. Ihre Augen waren nur noch zwei riesige Pupillen, die einem das Gefühl gaben, als wüssten sie alles. Mutteraugen.
Mauro wollte aus dem Zimmer rennen, aber seine Füße blieben am Boden haften. Der Marionettenspieler hatte ihn an den Knöcheln gefesselt.
Sie war seine Mutter.
»Mein Sohn, warum hast du mich nie gehört? Weißt du denn nicht, wie viel ich für dich gebetet habe?«
»M…Mama …«
»Wo bist du gewesen? Seit Jahren starre ich auf diese Tür und warte, dass sie aufgeht und du hereinkommst. Aber sie ging nie auf, Mauro. Sie ging nie auf.« Sie hob die Hände und ließ sie wieder sinken. Ihre arthritischen steifen Finger waren gleichsam ineinander verknotet. »Wolltest du etwa mich für all die Dinge bestrafen, die dir dein Vater angetan hat?«
Mauro krümmte sich nach vorne. Es war zu spät. Die Flucht vor seinen Erinnerungen war jetzt zu Ende. Es ging nicht mehr weiter. Er befand sich im innersten Kreis seines erstickend heißen Nicht-Lebens, inmitten der Finsternis, die alles Sein verneinte, aber dennoch … er war da. Er hatte überlebt. Eine Schuld so alt wie die Pyramiden, so unendlich wie der Kosmos, so hart und dicht wie eine Sekunde. Ein Drama, in dem es nur Nebendarsteller gab.
Alle Ewigkeit war in einen einzigen Augenblick konzentriert, Mauro starb unzählige Male, und jedes Mal wurde er wiedergeboren, ohne dass jemand um ihn trauerte … und da war er schon wieder zurück, und das ganze Theater begann von vorne. Alle Gewissheiten waren verloren, außer dieser einen: Jemand wollte, dass etwas aufhörte, jemand wollte nicht mehr weiterleben, jemand forderte seine letale Injektion.
Er beugte sich vor und ergriff die Hände seiner Mutter.
Sie waren so kalt wie die einer Leiche.
»Du irrst dich, Mama. Nicht ich habe dir wehgetan. Ihr wart es. Ihr habt mich bestraft. Immer wieder. Ohne Grund!«, entgegnete Mauro. Um ihr all das ins Gesicht zu sagen, bedurfte es titanischer Kräfte, so schwer fiel es ihm. Zu lange in seinem Innern unterdrückt, brach sich die Wut jetzt Bahn. »Ihr habt mich geschlagen. Ihr habt mich tagelang im Keller eingesperrt. Einfach so. Ich war noch ein Kind, Mama. Nur ein Kind.« Sein Herz schlug wild. Es klopfte, als würde ein lebendig Begrabener mit den Fäusten gegen den Sargdeckel trommeln.
Und dann geschah ein Wunder.
Die Frau wich seinem Blick aus. Zum ersten Mal in seinem Leben.
»Das war in einer anderen Zeit. In einem anderen Leben«,
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