Bottini, Oliver - Louise Boni 01
sie ihm geben?»
«Bloß nicht. Reiner, mit wem waren sie dort?»
Lederle schwieg für einen Moment. Dann sagte er:
«Louise? Ich versteh dich so schlecht …‼
«Ich hör dich deutlich.»
«Louise? Hallo? …‼
«Lass den Mist, Reiner.»
«Louise? Ich leg jetzt auf, okay?»
«Mensch, bist du ein Feigling.»
Lederle seufzte. «Muller», sagte er. «Aber halt dich bitt e raus.»
«Danke.» Sie unterbrach die Verbindung.
Justin Muller. Sie grinste. Einer der wenigen französischen Kollegen, die Anfragen aus Deutschland nach ihrer Dringlichkeit beurteilten und nicht nach anderen Kriterien. Ein biederer, sympathischer Lo-ckenkopf, ein bisschen dick, doch angenehm väterlich.
Zwei Söhne, geschieden, damals zumindest. Ein Küsser vor dem Herrn. Vor einem Jahr hatte sie ihn fast ins Bett bekommen. Oder er sie? Wir sollten das nicht tun, wir sind Kollegen, hatte einer von beiden irgendwann gemurmelt. Muller? Sie?
Mechanisch tastete sie die Anoraktaschen ab. Auto-schlüssel, Taschentücher, vier Packungen Kaugummis, Handy, sonst nichts.
«Louise?»
Sie sah auf. Um die Lippen ihrer Mutter lag ein düsteres Lächeln. Obwohl es jetzt stärker regnete, hatte sie das Kopftuch gelöst und in den Nacken ge-schoben. Wir sollten das nicht tun, wir sind Kollegen . Sie verzog das Gesicht. Sie würde so etwas nie sagen.
Langsam kehrte sie zu ihrer Mutter zurück.
«Was ist mit dir passiert?» Ihre Mutter hakte sie unter und zog sie weiter. Louise spürte, wie viel Kraft sie noch hatte.
Ein leichter, feuchter Wind war aufgekommen. Der Pfad wand sich zwischen den mannshohen Felsbrocken hindurch. Wieder schien der Geruch von Schnee in der Luft zu liegen. Ihr wurde bewusst, dass sie ihre Mutter in den letzten Jahren immer im Winter besucht hatte. Nach der überstürzten Trennung von Mick vor drei Jahren, nach dem Tod Calamberts vor zwei. Letztes Jahr im Januar, nachdem sie Weihnachten und Silvester allein verbracht hatte und in den ersten Ja-nuartagen eine halbe Nacht lang damit beschäftigt gewesen war, geräuschlos leere Flaschen fortzuschaf-fen.
«Erinnerst du dich an Calambert?»
«Der Mann, der das Mädchen … Ja.»
Sie nickte. Sie war wenige Tage, nachdem der Fall abgeschlossen worden, nachdem Annetta gestorben war, hergefahren. Auf dem Fenstersims waren keine Fotografien gewesen, das Sofa hatte vor dem Kamin gestanden. Ihre Mutter hatte hochaufgerichtet auf einem Küchenstuhl gesessen und gesagt: Das arme Mädchen. Das arme, arme Mädchen.
«Ich komm nicht damit klar.»
«Womit?»
«Dass ich an seinem Tod schuld bin.»
Ihre Mutter blieb stehen und musterte sie. «Mich hat es stolz gemacht. Ich war zum ersten Mal in meinem Leben stolz auf etwas.» Ihr Blick war fest, erinnerte jetzt vage an die Kriegerinnenzeit.
«Er war verheiratet und hatte eine kleine Tochter, Mama.»
«Er hat ein Mädchen umgebracht. Vergewaltigt und umgebracht.»
«Trotzdem.»
«Ich war stolz auf dich, Louise.» Die Stimme ihrer Mutter war kühl geworden. Aber der Griff ihrer Finger um Louises Handgelenk blieb fest.
Sie wandten sich um, gingen den Pfad zurück. Jenseits der Wiese und des Hügels waren eine Hand voll dunkle Häuser zu sehen. Rauch stieg aus Schornstei-nen. Durch einige Fenster schimmerte müdes, warmes Gelb. Louise sah aufgeräumte Küchen vor sich, einfache Holztische, alte Menschen, die miteinander Kaffee tranken. Niksch, der auf ein winziges Tässchen mit grüner Flüssigkeit starrte. Eine schwarze Porzellankatze auf einem Fenstersims.
Richard Landen, dachte sie, hätte die richtigen Fragen gestellt.
«Wie schlimm ist es? Das Trinken?»
«Wie meinst du das?»
«Na ja, kannst du aufhören?»
Louise hob die Brauen. Sie dachte an Calambert, an Mick. An die langen dienstfreien Wochenenden. An den Winter, den Schnee. Daran, dass nun ein vierter Schneemann dazugekommen war: Niksch. «Natürlich», sagte sie.
Ihre Mutter nickte. «Du hast schon vorher angefangen, vor Calambert», sagte sie dann. «Du hast angefangen, weil du keine Kinder hast und in deiner Ehe nicht glücklich bist, aber das willst du dir nicht eingestehen, weil du dir dann auch eingestehen müsstest, dass ich Recht hatte, dass man deinem Mann keine fünf Minuten lang trauen kann.»
Heißer Zorn schoss ihr in die Glieder. Aber sie schwieg. Sie konnte sich kaum darüber beklagen, dass ihre Mutter ihre Vergangenheit veränderte, wenn sie ihr wesentliche Informationen vorenthielt.
«Das soll kein Vorwurf sein, Louise. Frauen verlieben sich nun
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