Bottini, Oliver - Louise Boni 01
trank einen Schluck.
Kein anderer Name hatte sich ihr so eingeprägt wie dieser: Filbinger . In ihrer Erinnerung war sie mit diesem Namen aufgestanden, in die Schule gegangen, sie hatte mit diesem Namen die Abende verbracht und manchmal von ihm geträumt. Anfangs hatte er wunderbar geklungen, für ein geheimnisvolles Wesen gestanden, über das ihre Mutter und ihr Vater lange Gespräche führten. Aus den Gesprächen waren heftige Auseinandersetzungen geworden, aus dem ge-heimnisvollen Wesen ein Alptraum.
Sie öffnete die Augen und sah ihre Mutter an.
«Bist du deshalb hier, Louise? Um mir Vorwürfe zu machen? Um mir zu sagen, dass ich an allem schuld bin?»
Sie schüttelte den Kopf. «Ich bin hier, weil vorges-tern jemand gestorben ist.»
Später, am Nachmittag, gingen sie hinaus. Es regnete leicht, der hellgraue Himmel lag tief über dem Dorf. Sie folgten der Straße ein Stück, bogen am Ortsende auf einen Pfad ab, der einen kleinen Hügel hi-naufführte.
Ihre Mutter hatte kaum ein Wort gesagt, seit Louise von Niksch erzählt hatte. Sie wirkte nachdenklich, erschöpft. Als sie die Kuppe des Hügels erreicht hatten, blieb sie stehen und fragte: «Denkst du manchmal an Germain?»
«Ab und zu. Warum?»
«Er ist nur ein paar Jahre älter geworden als der Polizist.»
Louise nickte. Sie gingen weiter. Ihre Mutter trug einen einfachen, dunklen Mantel, ein einfaches kariertes Kopftuch, ging mit einfachen, kleinen Schritten, war eine einfache Frau geworden, der wenige Quad-ratkilometer zum Leben genügten. Es fiel Louise schwer, in ihr die Kriegerin aus ihrer Kindheit und Jugend wiederzuerkennen. Auch sie war, wie Landens japanische Frau, einen weiten Weg gegangen.
«Ich denke selten an ihn. Eigentlich nie.»
«Ist er hier auch nicht mehr wichtig?»
Ihre Mutter zuckte die Achseln. «Man kann nicht das Schlimme vergessen und das Schöne bewahren.
Wenigstens kann ich das nicht. Irgendwie hängt alles miteinander zusammen. Wenn ich Germain vor mir sehe, habe ich automatisch deinen Vater vor Augen, und dann denke ich an Filbinger und an diese ganze unerträgliche Männerwelt aus Macht, Lügen, Gier, Krieg … Also denk ich lieber nicht an Germain.»
«Oder an mich», sagte Louise.
«Ja.» Ihre Mutter warf ihr einen kurzen Blick zu.
«Ich weiß, das ist schrecklich, aber so ist es eben.»
Jenseits des Hügels lag eine leicht ansteigende, mit gelblichem Gras bewachsene Wiese. Sie mündete zweihundert Meter weiter in eine kahle Landschaft aus Felsen. Nebelschwaden hingen zwischen den un-förmigen Blöcken. Ein matschiger Pfad führte darauf zu. Sie folgten ihm schweigend. Louise dachte an Richard Landen und fragte sich, wie er es ertrug zu wissen, dass er seine Frau nie wirklich verstehen würde.
Ob er eine Methode kannte, es erträglich zu machen.
Da klingelte ihr Handy. Es war Lederle. Seine Stimme wurde im Sekundenintervall von Verbin-dungsausfällen zerhackt. Sie drehte sich um die eigene Achse, es wurde nicht besser. Hollerers Zustand, verstand sie immerhin, war unverändert. Sie wollte nachfragen, aber Lederle sprach schon von Schneider und Anne Wallmer. Sie waren mit dem Franzosen im Kanzan-an gewesen. Der Mönch – Lederle sagte «Ta-ro» – stammte tatsächlich von dort.
Sie blieb stehen. «Und weiter? … Reiner?»
Lederles Antwort war nicht zu verstehen.
Sie ging ein paar Schritte. Lederles dünne Stimme drang, von einem Rauschen begleitet, wieder an ihr Ohr. Niemand im Kloster wisse Genaueres, sagte er.
«Louise?»
«Ich hör dich.»
Schneider und Anne Wallmer hatten sich Taros Zelle ansehen dürfen, der Franzose hatte die Leute aus dem Kloster befragt. Taro stammte, wie Richard Landen vermutet hatte, von der Insel Kiushu. Er war dreiundzwanzig und seit vier Monaten im Kanzan-an.
Er hatte das Kloster in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag verlassen; aufgefallen war das erst am Donnerstagmorgen. Mehr war nicht zu erfahren gewesen.
Louise überlegte, ob Schneider und Anne Wallmer dem französischen Kollegen die richtigen Fragen souffliert hatten. Fragen, die man stellte, wenn man davon ausging, dass Taro kein Täter, sondern ein Opfer war. Fragen, die von anderen Möglichkeiten ausgingen als der, die Bermann ins Spiel gebracht hatte.
«Und bei dir?», fragte Lederle. «Alles in Ordnung?
Kann ich was für dich tun?»
«Wie heißt der Franzose, mit dem sie dort waren?»
«Übrigens hat dein Vater angerufen. Er sagt, er erreicht dich zu Hause nicht. Hat er deine Handy-Nummer nicht? Soll ich
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