Bottini, Oliver - Louise Boni 01
einen Schluck. «Zen sagt, dass alle Lebewe-sen und Dinge nur flüchtige Erscheinungen sind. Sie haben keine eigene Natur, kein Selbst, kein Ich, sie sind in diesem Sinne leer …‼
Louise nickte. Fasziniert beobachtete sie die Bewegungen der zweifarbigen Augenbraue. Sie wanderte nach oben, nach unten, knickte einmal an der grauen Stelle ein. Nur mit Mühe unterdrückte sie das Bedürfnis, mit dem Finger darüber zu streichen.
※… erkennt man im Moment der Erleuchtung. Die Dualität ist aufgehoben, also die Einteilung in Subjekt und Objekt – den, der sieht, und das, das gesehen wird. Nun erkennt man die Dinge, wie sie sind, man sieht ihre wahre Natur.»
Landens Stimme vermittelte jetzt wieder die routinierte Geduld, die sie schon kannte. Er dozierte. Die Leidenschaft war verschwunden, die Augenbraue bewegte sich nicht mehr. Er sagte: «Einsicht in Shunyata ist die Voraussetzung dafür, den leidvollen Kreislauf des Lebens verlassen zu können und ein Buddha zu werden.»
«Aha», murmelte sie.
«Buddha-nature inside every man », sagte der Roshi.
«Also inside every woman?»
Der Roshi nickte lachend. « Also inside every woman.
Buddha-nature own-nature. Understand? Own-nature.»
«Own-nature?», wiederholte sie verständnislos.
«Jeder trägt die Buddha-Natur in sich. Es ist die eigene Natur», sagte Richard Landen.
Von draußen ertönte das kurze, harte Geräusch von Hammerschlägen. Die beiden Mönche klopften die Brunnensteine fest. Allmählich wurde es dunkel.
Es dauerte einen Moment, bis Louise bemerkte, dass es leicht zu schneien begonnen hatte. Vereinzelt fielen wässrige, fast durchsichtige Flocken. Die Katze war fort oder mit dem grauen Licht der Dämmerung ver-schmolzen.
Ein Kind nahe der Stelle, wo Niksch ermordet und Taro zuletzt gesehen worden war. Ein Kind im Kanzan-an, wo Taro gelebt hatte.
Bermann hätte sie ausgelacht, wenn er ihre Gedanken gekannt hätte.
Bermann hielt sich an Wahrscheinlichkeiten und Logik, sie suchte Verbindungen, Analogien, Systeme.
Bermann leitete das Dezernat II, sie war krankge-schrieben.
Sie musterte den Roshi, der ihren Blick, noch immer leicht nickend, erwiderte. Härte, Strenge, Zorn lagen in seinen Augen, aber auch Weisheit und Verständnis.
Landens Bemerkungen über die Fremdheit gingen ihr durch den Kopf. Dass man einen anderen Menschen nie wirklich verstehen könne, schon gar nicht einen Menschen aus einem anderen Kulturkreis. Ihr wurde bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, was der Roshi in diesem Moment dachte, fühlte, wollte. Was er sah.
Von Richard Landen wusste sie kaum mehr.
Und von sich selbst? Sie wusste, dass in ihrem Handschuhfach in Zeitungspapier gewickelte Flaschen lagen. Dass in Freiburg eine blutjunge Psychologin auf ihren Anruf wartete. Dass sie drauf und dran war, sich in einen verheirateten Intellektuellen zu verlieben, dessen Frau schwanger war. Dass sie sich die Hand eines minderjährigen Sushi-Verkäufers an Körperstellen wünschte, an die sie nicht gehörte.
Sie lächelte müde und fragte: «Gibt es junge Zensus im Kanzan-an, Roshi? Kinder?»
Richard Landen übersetzte.
«No», sagte der Roshi. «No children in Kanzan-an.»
9
FÜNFZEHN MINUTEN SPÄTER war es beinahe dunkel. Nach wie vor fiel wässriger Schnee, der nicht liegen blieb. Gongschläge erklangen und verstummten. Sie standen am Eingang und blickten dem Roshi nach, der die Mönche und Nonnen über die Lichtung in die «Dharma-Halle» zum Teisho führte, der Lehr-Darlegung.
«Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse», sagte Richard Landen dicht hinter ihr.
«Sie haben den Jungen auch gesehen.»
«Ja, aber im Gegensatz zu Ihnen vertraue ich dem Roshi. Diese Menschen sind anders. Sie sind nicht an Dingen interessiert, deretwegen gelogen wird. Sie haben sämtliche menschlichen Begierden überwunden, und die sind das Grundübel von allem, verstehen Sie? Ohne Begierden gäbe es kein Leid. Alles, was diese Leute brauchen und suchen, tragen sie in sich.»
Ein französischer Novize hatte den Auftrag bekommen, ihnen das Kloster zu zeigen. Sein Kopf war von millimeterlangen blonden Haaren bedeckt. Seine Nase lief.
In den Gängen herrschte Dunkelheit. No electric light China of Kanzan, no electric light here. Der Novize trug eine Öllampe. An den Wänden waren Kerzenhal-terungen angebracht, doch nur wenige Kerzen brannten. Je tiefer sie ins Kanzan-an vordrangen, desto unwirtlicher, stiller, unheimlicher wurde es. Wenn man die Dinge, die man in sich trug, nur an
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