Bottini, Oliver - Louise Boni 01
Schnee.
Der Volvo hatte ein Freiburger Kennzeichen. Die Motorhaube war noch warm. Im Inneren des Wagens herrschte die penible Landen’sche Ordnung. Ob Richard Landen jemals Spuren hinterließ, die etwas über ihn erzählten? Falls nicht, musste sie sich auch weiterhin damit begnügen, aus der Abwesenheit der Dinge Schlüsse zu ziehen. Aus dunklen Fenstern, einer gesichtslosen Frauenstimme, Richard Landens Schweigen. Aus unvollendeten Geschichten.
Vom Parkplatz führte ein schmaler, gerader Pfad in den Wald. Im Schrittabstand waren flache Steine in die Erde eingelassen. Abgesehen von dem Holzschild waren die Trittsteine das erste Anzeichen dafür, dass Besucher im Kanzan-an nicht ganz unwillkommen waren.
Sie fror und war rasch außer Atem. Wieder flackerten Bilder von Sonntagabend vor ihren Augen auf.
Der kränkliche Mond, der bleiche Schnee. Ihre Hände, die voller Blut waren. Nikschs verschmutztes, entseel-tes Gesicht, das nicht Nikschs Gesicht hatte sein können.
Der Pfad mündete in eine weite, hügelige Lichtung.
In ihrem Zentrum stand ein düsteres Gebäude mit einem steinernen Treppenaufgang. Über die Lichtung verstreut lagen eine Hand voll flache Holzhäuser.
Menschen waren nicht zu sehen. Es war totenstill.
Kein Laut, keine Bewegung. Nichts deutete darauf hin, dass das Kanzan-an bewohnt war.
Dann trat Richard Landen aus dem Eingang des Haupthauses.
Sie gaben sich die Hand. Richard Landen lächelte nicht, aber er wirkte auch nicht unfreundlich. Der graue Abschnitt seiner Augenbraue blieb reglos. Er trug einen schwarzen Rollkragenpullover, einen braunen Cordanzug, einen schwarzen Mantel. In ihrer Fantasie sahen so die Männer in den Pariser Existen-zialisten-Cafés der Fünfzigerjahre aus. Sie unterdrück-te ein Schmunzeln. Ihre Mutter hätte ihre Freude an ihm gehabt.
«Mein Beileid», sagte er.
«Was?» Sie starrte ihn überrascht an. Während sie noch zu verstehen versuchte, worauf er sich bezog, kamen die Tränen.
Erbost ließ sie sie laufen.
Richard Landens Augen wurden schmal. Er räusperte sich. Ein falsches Wort, dachte sie, und ich bring dich um. Aber er sah, die Hände in den Mantelta-schen, interessiert zu und schwieg.
Dann war es vorbei. Sie schnäuzte sich, trocknete sich die Wangen und sagte: «Gehen wir rein.»
«Wir müssen warten, die Mönche meditieren gerade.»
«Wie lang dauert so was?»
«Wenn wir Pech haben: neun Jahre.» Er lächelte.
«So lange dauerte es bei Bodhidharma.» Die verzierte Augenbraue hob sich zu einem Rundbogen. Richard Landen hatte versucht, sie aufzuheitern. Sie grinste.
«Dann sehen wir uns ein wenig um.» Sie berührte ihn leicht am Arm.
Sie gingen an der Front des dreigeschossigen Hauptgebäudes entlang. Nichts an dem Haus erinnerte an Asien. Es glich, fand sie, entfernt dem Freiburger Stadttheater nach dem Umbau – leicht gerundete Fas-sade, hohe, oben halbrunde Fenster. Vor langer Zeit mochte es beigefarben gewesen sein; jetzt war es fast bräunlich.
Durch den Verputz zogen sich vertikale Risse, der Sockel war von Moos bedeckt. In der kalten Luft lag manchmal der Geruch von Moder.
Sie hob den Blick. Keine Balkone, auf denen Buddha-Statuen wachten wie im Freiburger Kagyü-Haus.
Dafür ein Kind. Sie blieb stehen. Hinter einem Fenster im mittleren Geschoss stand ein Junge. Nur Schultern und Kopf waren zu sehen. Er schien zu ihnen herab-zublicken. Sie konnte seine Gesichtszüge nicht genau erkennen, aber er sah asiatisch aus. Sie schätzte ihn auf drei oder vier Jahre. Andererseits – sie hatte keine Erfahrung mit asiatischen Kindern.
Auch Richard Landen hatte den Jungen bemerkt und war stehen geblieben. Er hob eine Hand und bewegte sie ungelenk. Sie fragte sich, ob Tommo / Landen Kinder hatten. In der aufgeräumten Küche hatte nichts darauf hingewiesen. Aber vielleicht hinterlie-
ßen auch sie keine sichtbaren Spuren.
Der Junge winkte zurück.
Sie gingen weiter. Ferne, gedämpfte Gongschläge ertönten. Die ersten Laute, die das Kanzan-an von sich gab. Woher sie kamen, war nicht festzustellen. Sie schienen aus dem Erdreich aufzusteigen, aus den Mauern zu strömen. Immer derselbe Ton, sanft und unerschütterlich.
«Gibt es in Bezug auf Taro Hoffnung?», fragte Richard Landen.
Sie antwortete nicht gleich. Irgendwo in ihrem Un-terbewusstsein regte sich ein Gedanke. Sie versuchte, sich zu konzentrieren, konnte ihn aber nicht greifen.
Immer mehr Gedächtnislücken.
Für einen Moment raste Angst durch ihre Blutbahnen. Ein perforiertes
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