Bottini, Oliver - Louise Boni 01
SCHÜTTELTE fassungslos den Kopf, Bermann verfluchte sie, Almenbroich lobte und schalt sie, Barbara Franke sagte ununterbrochen «Mist». Die Gesichter und Stimmen und Blumen änderten sich in rascher Abfolge. Nur der Krankenhausgeruch blieb derselbe. Sie hatte kein Bedürfnis zu trinken, aber sie freute sich auf den ersten Schluck wie ein Kind auf Weihnachten. Sie wartete auf Hollerer und Richard Landen, beide kamen nicht.
Jemand legte eine Zeitung mit ihrem Foto aufs Bett.
Jahre vergingen.
Nach drei Tagen brachte Bermann verschwomme-ne Besucher aus Frankreich: Justin Muller und Hugo Chervel. Sie hatten Blumen und einen Obstkorb dabei, aber ihre Mienen waren ernst. «Zehn Minuten», sagte Bermann auf Deutsch, «mehr schafft sie nicht. Und kein Wort, das ich nicht versteh.» Er setzte sich auf ihre rechte Seite, Justin und Chervel stellten Stühle auf ihre linke Seite.
«Geht’s dir besser?», fragte Justin und legte eine Hand auf ihre und nahm sie gleich wieder fort.
Sie nickte. Sie erinnerte sich vage, dass er in den vergangenen Tagen schon einmal hier gewesen war.
Ob sie miteinander gesprochen hatten, wusste sie nicht mehr. «Bin schon fast wieder die Alte», murmelte sie auf Französisch. Die Männer schwiegen. Die Aussicht schien ihnen nicht zu behagen.
Chervel beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. Sein Gesicht befand sich dicht vor ihrem.
Er roch nach Zigaretten und Aftershave. Seine Augen waren gerötet, die Pupillen klein und hellblau wie bei einem Husky. Er trug einen grauen Anzug, dazu ein hellblaues Hemd mit gestärktem Kragen. Ein lauern-der, sanfter, einsamer Leitwolf. Sie mochte ihn. Wie Justin Muller bemühte er sich, die Zusammenarbeit mit den deutschen Kollegen möglichst an den Erfor-dernissen auszurichten.
«Dein Auto», sagte er auf Französisch.
Sie nickte und zog sich mit der rechten Hand die Decke bis an den Hals. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal gewaschen worden war.
«Ich hab’s heute nach Altkirch gebracht, zu meinem Schwager. Er hat eine Werkstatt, weißt du. Er kümmert sich drum.»
Sie nickte wieder.
«Du hattest ein bisschen Glück. Der Kühler eines Rénault gegen die Seitenverstärkung eines VW. Hätte eigentlich anders ausgehen müssen.» Er grinste und warf Bermann einen kurzen Blick zu.
Bermann sagte: «Komm zur Sache, Chervel.»
«Erzähl uns, was passiert ist, Louise», sagte Chervel.
«Es gibt einen Bericht», murmelte sie auf Franzö-
sisch. Chervel lächelte milde und schwieg.
Also erzählte sie erneut, was geschehen war, seit sie das Kanzan-an zum zweiten Mal betreten hatte.
Justin sagte nichts, doch Chervel hatte zahlreiche Fragen. Was genau war vor einer Woche mit Taro geschehen? Warum hatte sie ihn eine Nacht lang begleitet? Seit wann hatte sie Asile d’enfants in Verdacht gehabt? Vor allem: weshalb? Warum hatte sie Natchaya mitgenommen? Warum war sie allein gewesen?
«Geht euch nichts an», sagte Bermann auf Deutsch.
Warum hatte sie vor der Schießerei niemanden informiert?
«Dito», sagte Bermann auf Lateinisch.
Später zählte Chervel mit sanfter Stimme auf, gegen welche internationalen Übereinkünfte und nationalen Gesetze sie verstoßen hatte. Dass sie sich eine
«Schießerei mit französischen Staatsbürgern geliefert»
hatte, trug nicht zur Besserung bei.
Sie verdrehte die Augen.
«So ein Blödsinn», sagte Bermann auf Deutsch.
«Ja», sagte Chervel. «Trotzdem haben wir ein Problem.»
Sie spürte, dass Bermann sich auf die rechte Bettsei-te stützte. Die Schwerkraft begann sie in seine Richtung zu ziehen. Sie überlegte, wie er reagieren würde, falls ihr Hintern plötzlich auf seinen Händen läge.
Bermann sagte: «Wenn wir ein Rechtshilfeersuchen gestellt hätten, würden wir an Weihnachten noch immer auf Antwort warten, verdammt.»
«Wir?», sagte Louise. Keiner der drei Männer beachtete sie. Sie warf einen Blick auf ihren Wecker. Aus zehn Minuten war eine halbe Stunde geworden. Die Männer machten den Eindruck, als wollten sie den Tag in ihrem Zimmer beenden.
Durch die Decke spürte sie einen von Bermanns Fingern am Hintern. Abrupt kam die Matratze wieder in die Horizontale.
Chervel lehnte sich zurück. «Also», sagte er seuf-zend. «Überlegen wir, was wir haben. Wir haben ein Kloster in Frankreich, in dem Franzosen, Deutsche und Asiaten leben. Trotzdem, das Kloster gehört erst mal uns, es steht in Frankreich. Dann haben wir einen VW Sharan mit Kölner Kennzeichen. Der
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