Bottini, Oliver - Louise Boni 01
Therapeutin?»
Katrin Rein starrte sie einen Moment an, dann begann sie zu lachen.
Louise rang sich ein Lächeln ab. Therapeutin und Patientin witzelten miteinander. War das ein gutes Zeichen?
Am Nachmittag führte Lederle sie in einem stillen, leeren Gang spazieren. Mit einem verlegenen Räus-pern hatte er sie untergehakt. Ihr wurde bewusst, dass er sie noch nie berührt hatte, seit sie zusammenarbei-teten, abgesehen davon, dass er ihr die Hand geschüttelt hatte. Es war ein schönes Gefühl. Ein Neuanfang-Gefühl.
Lederle sagte, dass er Hollerer am Vortag besucht habe. Er erhole sich nur langsam und erinnere sich an nichts. Mittlerweile wisse er, dass Niksch nicht mehr am Leben sei. Louise schwieg. Der Gedanke an Hollerer und Niksch hatte das Neuanfang-Gefühl zerstört.
Sie wollte, dachte sie, nicht neu anfangen. Sie wollte mit allem, was geschehen war, weiterleben. In einem gewissen Sinn hätte sie es als Verrat an Niksch empfunden, neu anzufangen.
Auch Hollerer würde nicht neu anfangen.
Sie nahm sich vor, ihn zu besuchen, sobald es ihr möglich war.
«Wie geht’s Antonia?»
«Antonia geht’s gut, danke, sie lässt dich grüßen.»
«Du hast gesagt, es gibt was, das ich wissen sollte.
Was hast du gemeint?»
«Nicht hier», sagte Lederle.
«Wo dann?»
«Wenn das alles vorbei ist, gehen wir zusammen essen, und dann erzähle ich’s dir.»
«Du lässt dich versetzen.»
Lederle lächelte flüchtig. «Geduld, meine Liebe.»
Sie grinste und legte ihre Hand auf seine.
Dann erzählte Lederle, dass die Fahndung noch nichts gebracht habe. Jean Berger, Annegret Schelling, Natchaya, die Franzosen, die schwangere Asiatin, die Kinder, sie alle seien wie vom Erdboden verschwunden. Der Sharan dagegen sei gefunden worden. Sie hätten ihn in einem Steinbruch westlich von Mulhouse in die Luft gejagt. Die französischen Kriminaltechniker legten Puzzles aus verschmorten Einzelteilchen, während das Rechtshilfeersuchen der Deutschen be-arbeitet wurde.
Eine viel versprechende Spur sei der Name «Steiner». Ein Steiner, der womöglich Arzt sei. Die Franzosen suchten, die Deutschen suchten. «Wenn du Recht hast, können sie einen Arzt ganz gut gebrauchen.»
Wortlos nickte sie. Sie fand, dass Lederles Stimme zu nüchtern klang. Doch dann sagte er mit derselben Unbeteiligtheit: «Ich hatte gehofft, dass mir so was erspart bleibt. Wir hatten vor Jahren mal einen Fall, da ging es um ein zehnjähriges Mädchen, das in der Verwandtschaft rumgereicht worden war. Ich sollte die Soko leiten, aber ich habe mich gedrückt. Ich wollte … keine Fotos und Videos sehen, verstehst du. Ich mag Kinder nicht, aber ich wollte das nicht sehen. Ich wollte es nicht glauben .»
«Und jetzt?»
«Und jetzt?», wiederholte Lederle. Er zuckte die Achseln. «Jetzt ist es nicht mehr so wichtig, was ich sehe und was nicht.»
«Wieso?»
«Wieso?» Lederle runzelte die Stirn. Sie näherten sich dem Ende des Flurs. Hinter ihnen erklangen leise Schritte und verschwanden wieder. Für einen kurzen Moment berührte Lederles Handrücken die Außenseite ihrer rechten Brust. Seine Hand zuckte zurück. Er sagte: «Übrigens, hab ich mich schon bei dir entschuldigt?»
«Niemand hat sich bei mir entschuldigt.»
«Dann tu ich’s jetzt. Ich leiste Abbitte. Du hattest Recht. Wir waren … Ach, ich weiß nicht. All diese komischen Japaner, da denkt man schon mal Dinge, die man vielleicht nicht denken sollte.» Er lachte.
«Man denkt, bevor man denkt.»
Sie nickte stumm. Ja, sie hatte Recht gehabt – aber hatte sie richtig gehandelt? Sie fand keine Antwort auf diese Frage. Wie immer hätte sie vieles anders machen können, vielleicht anders machen sollen. Gründlicher überlegen, besser vorbereitet handeln.
Bermann hatte am Morgen desselben Tages zum wiederholten Mal gefragt, warum verdammte Scheiße sie nicht angerufen habe. Warum verdammte Scheiße sie nicht so mutig gewesen sei, zu ihm und Almenbroich zu kommen und ihre Theorie vorzubringen –
rechtzeitig . Sie hatte erwidert, dass sie keine Theorie gehabt habe, nur ein Gefühl. Und warum, verdammte Scheiße, hast du deinem Gefühl nicht vertraut?, hatte Bermann gesagt. Hab ich, du Idiot, hatte sie entgegnet, sonst würde ich nicht hier liegen.
«Jetzt müssen wir sie nur noch kriegen», sagte Lederle.
«Ja.»
Vor dem Fenster am Ende des Flurs blieben sie stehen. «Es schneit», sagte Louise.
«Soll im Winter vorkommen.»
Sie wandten sich um und nahmen ihren Spazier-gang wieder
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