Bottini, Oliver - Louise Boni 01
Fünfmal? Blieben drei, höchstens vier Kugeln.
Natchaya sah sie mit gleichgültiger Miene an. Sie leistete auch jetzt keinen Widerstand. Was ging in ihr vor? Wartete sie auf eine Gelegenheit zu fliehen? Ihr ein Messer in den Rücken zu stoßen?
Louise fiel ein, dass sie sie nicht nach Waffen durchsucht hatte. Die Pistole in der rechten, tastete sie sie mit beiden Händen ab. Ein warmer, weicher Körper, der nicht zurückzuckte, nicht nachgab. Der sich ihren Händen auf eine merkwürdige Weise überant-wortete.
Natchayas Blick lag unverändert auf ihr. Louise kniete sich hin. Rasch fuhr sie ihr über die Innenseiten der Beine, die Fußknöchel. Keine Waffen. Sie erhob sich. Erneut begegneten sich ihre Blicke. Es war zu dunkel, um in Natchayas Augen etwas zu erkennen.
Eine seltsame Willenlosigkeit schien von ihr auszugehen. Die unendliche, passive Geduld eines alten Hundes. Oder eines gedemütigten jungen Hundes.
Kein guter Vergleich, dachte sie und setzte sich wieder in Bewegung.
Als sie die Bäume erreichten, begriff Louise, dass sie keinen Schutz boten. Sie standen nicht dicht genug, die Stämme waren zu schmal. Sie mussten weiter.
Aber sie konnte nicht mehr. Keuchend sank sie gegen einen Stamm, die Pistole in der Hand. Sie zog Natchaya neben sich. Sekundenlang starrte sie in die Dunkelheit, aus der sie gekommen waren.
Keine Bewegungen, keine Geräusche, keine Schatten. Was auf der Straße geschah, war nicht zu sehen.
Die Weide senkte sich Richtung Rhein ab, die Bö-
schung versperrte den Blick.
«Du hast nicht zufällig ein Telefon dabei, was?», flüsterte sie.
Natchaya zuckte kaum merklich die Achseln.
«Verstehst du, was ich sage?»
Wieder das Schulterzucken. Louise dachte an Harald Mahler. War er Natchayas Mann? Ihr Bruder, ihr Vater? Hatte er den Van gefahren? In jedem Fall klang sein Name deutsch. Sie schürzte die Lippen. «Nein?
English? Français?»
Natchaya schüttelte den Kopf.
«Quatsch», sagte Louise.
Wenig später stießen sie auf einen Wasserlauf, an dem ein breiter Weg entlangführte – vermutlich der Canal du Rhône au Rhin. Links musste Norden sein, rechts Süden. Im Norden lag Ottmarsheim mit dem nächsten Grenzübergang. Sehr weit konnte es nicht sein. Ein paar Kilometer. Sie deutete nach links.
Nach wenigen Metern wurde ihr klar, dass sie nicht auf dem Weg laufen konnten. Ihre Schritte waren auf dem sandigen Untergrund zu laut. Sie schob Natchaya auf den Grasstreifen zwischen Weg und Kanal. Der Körper des Mädchens gab sofort nach. Ein Wesen ohne Willen, ohne Widerstand. Oder sah sie keine Feindin in ihr?
Zehn Minuten später war Louise am Ende ihrer Kräfte. Sie grunzte «Stopp», drehte sich um und sank auf die Knie. Natchaya trat neben sie. Auch ihr Atem ging jetzt heftiger.
Louise ließ den Blick über die dunkle Weide gleiten. Keine Bewegungen, keine Geräusche, keine Schatten. Wo war der dritte Mann? Folgte er ihr doch nicht?
Sie tastete über ihre Schläfe. Die Wunde blutete nicht mehr, der Schmerz hatte nachgelassen. Sie brauchte etwas zu essen, etwas zu trinken, ein Telefon. Justin Muller, Bermann und Lederle. Ein neues Auto. Richard Landen. Und sie musste pinkeln.
Weiter, dachte sie. Lauf weiter. Aber sie blieb sitzen.
Nur allmählich wurde ihr bewusst, dass sich von einem Moment auf den anderen etwas geändert hatte.
Dann begriff sie. Es war noch stiller als vor wenigen Sekunden. Natchayas Atem war nicht mehr zu hören.
Sie sah auf. Natchaya stand halb abgewandt und starrte in die Dunkelheit westlich des Weges. Louise folgte ihrem Blick mit den Augen.
Nichts.
Nur ein plötzliches helles Licht und im selben Augenblick ein eiskalter Schmerz in der linken Schulter.
Dann lag sie auf dem Rücken und starrte in den Himmel. In große Augen, ein dunkles Gesicht, das sie gleichgültig musterte. Irgendetwas Merkwürdiges war geschehen. Die Augen und das Gesicht verschwammen. Sie blinzelte, aber es nützte nichts. Über ihre Schläfen lief kühle Flüssigkeit. Sie spürte, dass ihr die Pistole mit einem raschen Griff entwunden wurde.
Ein zweites Gesicht tauchte auf, das Gesicht eines Mannes. «Die Sau lebt», sagte das Männergesicht auf Französisch.
Keine Osteuropäer. Sie verspürte den Drang zu lachen. Franzosen, die wie Osteuropäer aussahen. Die manchmal wie Osteuropäer sprachen und manchmal wie Franzosen.
«Auf Wiedersehen», sagte das Männergesicht freundlich. Bewegungen entstanden, ein metallenes Klicken erklang.
Das Gesicht mit den großen Augen
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