Boy Nobody: Ich bin dein Freund. Ich bin dein Mörder. (German Edition)
habe ich nicht gedacht, dass dir was an mir liegt.«
»Warum denn nicht?«
»Weil man nie weiß, woran man bei dir ist.«
»Ich finde, dass du damit ganz gut klarkommst.«
»Na, ich weiß nicht.«
Als sie die Hand nach mir ausstreckt, zucke ich zusammen. Nur ein wenig, aber sie merkt es trotzdem.
»Ich denke, du gibst dich tough, aber innen drin bist du weich«, sagt sie mit einem sanften Lächeln.
»Und was ist mit dir?«
»Ich bin überall weich.«
Ihr Gesicht ist nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Innerhalb der Gefahrenzone. Wenn jemand so nah an deinem Gesicht ist, musst du auf der Hut sein. Denn aus dieser Entfernung kannst du seine Hände nicht sehen. Sie könnten eine Waffe hervorziehen, einen Schlag vorbereiten oder dich sonst irgendwie verletzen.
»Ich bin weich, wenn ich jemandem vertraue. Das hab ich eigentlich gemeint«, sagt sie.
»Und du vertraust mir?«, frage ich.
»Scheint so.«
Das ist normalerweise der Moment, ab dem nichts mehr schiefgehen kann. Wenn ich das Vertrauen meiner Kontaktperson gewonnen habe, ist der Rest nur noch ein Kinderspiel.
Aber bei diesem Job ist es anders. Es passieren Dinge, die ich nicht geplant habe.
»Ich habe das Gefühl, dass irgendwas mit mir nicht stimmt«, sage ich.
Weil mein Verstand die falschen Dinge denkt. Ich sollte darüber nachdenken, wie ich meinen Auftrag erledigen kann, und stattdessen denke ich an Sams schlanken Hals, an ihren verführerischen Mund, ihre Brüste, die sich unter ihrem Kleid abzeichnen. Ich denke an ihr Lachen, wenn wir zusammen sind.
»Mach dir nicht so viele Gedanken. Ich mag dich, wie du bist«, sagt sie.
Sie beugt sich vor, ihre Lippen sind jetzt ganz nah an meinen, so nah, dass ich ihren Atem spüre.
»Dein Dad wird sich bestimmt fragen, wo wir bleiben«, sage ich.
»Na, wenn schon.«
Ich trete schnell einen Schritt zurück.
»Im Ernst. Wir sollten wieder reingehen«, sage ich und drücke mich an ihr vorbei zur Tür.
»Mir ist nicht gut«, lüge ich.
»Ist dir etwa mein Essen nicht bekommen?«, fragt Sam und lacht gezwungen. Sie ist offenbar beunruhigt.
Ich sage den beiden, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchen, dass es bestimmt nichts Ernstes ist. Und winke ab, als mir der Bürgermeister anbietet, mich nach Hause fahren zu lassen.
Die Erklärung für meinen überstürzten Aufbruch ist nicht sonderlich überzeugend, aber sie erfüllt ihren Zweck.
Denn ich will weg.
Nur raus hier.
Raus auf die Straße. An die frische Luft.
Der zweite Tag ist vorbei und mein Auftrag ist immer noch nicht erledigt. Das ist allein meine Schuld. Ich habe wieder eine Chance vertan. Man verschenkt keine Chancen. Das habe ich in meiner Ausbildung gelernt.
Meine Ausbildung.
Ich sollte so schnell wie möglich meinen Job zu Ende bringen. Stattdessen laufe ich vor ihm davon.
Wie ferngesteuert durchquere ich die Eingangshalle, nicke dem Portier zu und trete auf die Straße. Dann gehe ich an der chemischen Reinigung vorbei und biege um die nächste Hausecke, damit ich außer Sichtweite des Wachhäuschens bin.
Ich sage mir, dass ich umkehren sollte, aber ich gehe weiter. Nur weg von diesem Apartment, dem Bürgermeister und seiner Tochter und den Gedanken, die mich völlig durcheinanderbringen.
Plötzlich überkommt mich wieder dieses Schwindelgefühl. Ich bleibe mitten auf dem Bürgersteig stehen.
Schon den ganzen Abend über lauerte die Erinnerung an der Schwelle zu meinem Bewusstsein.
Ein vertrauter Geruch.
Mein Vater.
Ein liebenswürdiger, warmherziger Mann, ein anerkannter Professor.
Ich saß auf seinem Schoß, während er am Schreibtisch arbeitete. Ich erinnere mich an das knarzende Leder seines Bürostuhls, die quietschenden Rollfüße, wenn man ihn über den Holzboden schob.
Manchmal, nach der Schule, habe ich mich heimlich in sein Arbeitszimmer geschlichen, obwohl es mir meine Mutter verboten hatte. Dann kniete ich mich auf den Drehstuhl, stieß mich am Schreibtisch ab und wirbelte im Kreis herum – eingehüllt in den Geruch meines Vaters, den das Lederpolster verströmte.
Ich weiß noch genau, wie es war, wenn er mich im Arm hielt und ich meinen Kopf an seine Brust schmiegte. Wie seine Stimme in seinem Brustkorb vibrierte, während er mit mir sprach.
Ich kann ihn riechen. Den angenehmen, frischen Duft seines Aftershaves.
Ich rieche meinen Vater, aber er ist nicht da.
Ein Teil ihrer Mutter sei immer noch bei ihr, sagte Sam. Und das würde ihr reichen.
Ein Teil meines Vaters ist auch bei mir.
Aber das
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