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Bradbury, Ray - Halloween

Bradbury, Ray - Halloween

Titel: Bradbury, Ray - Halloween Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Halloween
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die
tobenden Banden von Ungeheuern und Bestien, von
derben Lastern, versauerten Tugenden und verbannten Heiligen, von hochmütiger Stärke und aufgeblasenem Bombast krochen, glitten, flossen, wuchsen,
rannten senkrecht an der Fassade von Nôtre-Dame
hinauf. Es war eine Sturmflut von Alpträumen, eine
Grundwelle aus Schreien und Wimmeln, die die Kathedrale überschwemmte und jedes Sims, jeden herausragenden Stein mit einer Kruste überzog.
Dort rannten Schweine, da kletterten Satans Ziegenböcke, und an einer anderen Mauer stiegen Teufel hinauf, die sich unterwegs veränderten: Sie warfen Hörner ab und ließen sich neue wachsen, schnitten sich die Barte, damit andere aus langen, sich
windenden Regenwürmern sprießen konnten.
Manchmal lief ein Schwarm, der nur aus Gesichtern und Masken bestand, die Fassade hinauf und
besetzte die Brüstungen, getragen von einer Armee
von Krebsen und wankenden, urtümlichen Hummern. Da waren Gorillaköpfe voller Sünden und
Zähne. Da waren Menschenköpfe, die Würste im
Mund hatten. Da tanzte eine Spinne, die Ballett
konnte, mit der Maske eines Toren.
Es war so viel los, daß Tom sagte: »Mensch, da ist
ja ganz schön was los!«
»Und das ist noch nicht alles«, sagte Downground. »Da!«
Denn nun, da Notre Dame von den verschiedensten Bestien und wie Spinnen dahinkriechenden Gesichtern, Fratzen und Masken wimmelte, kamen Drachen, die Kinder jagten, Wale, die Jonas verschlangen, und Streitwagen, die bis zum Rand mit Schädeln
und Knochen gefüllt waren. Akrobaten und Jongleure, die von Halbdämonen zu den entstellendsten Verrenkungen gezwungen wurden, hinkten herbei und
erstarrten in befremdlichen Posen auf dem Dach.
Das alles wurde begleitet von Schweinen mit Harfen und Wildsäuen mit Piccoloflöten und Hunden
mit Dudelsäcken, so daß die Musik den Zauber unterstützen konnte und neue Wellen von grotesken
Gestalten die Mauern hinauflockte, wo sie für immer
auf steinernen Sockeln gefangen wurden.
Hier zupfte ein Affe die Leier, dort war eine Frau
mit einem Fischschwanz gestrandet. Eine Sphinx
flog aus der Nacht herbei, warf die Flügel ab und
verwandelte sich in ein Wesen, halb Frau, halb Löwe. Es setzte sich, um im Schatten und in Hörweite
der Großen Glocken die Jahrhunderte zu durchschlafen.
»Und was ist das da?« fragte Tom.
Downground beugte sich vor und schnaubte verächtlich. »Das sind die Sünden. Unbedeutend. Und
da hinten kriecht der Wurm des Gewissens.«
Sie sahen ihn kriechen. Er kroch sehr schön.
»Und jetzt«, flüsterte Downground ganz leise,
»ruht euch aus. Schlummert. Schlaft.«
Und die Herden der seltsamen Wesen drehten sich
wie böse Hunde dreimal um sich selbst und legten
sich hin. Alle Ungeheuer schlugen Wurzeln. Alle
Fratzen erstarrten zu Stein. Alle Schreie verstummten.
Der Mond tauchte die Wasserspeier von NôtreDame in Licht und Schatten.
»Verstehst du das, Tom?«
»Klar. Wir haben den alten Göttern, den alten
Träumen und Alpträumen, den alten Ideen, die nichts
mehr zu tun hatten, etwas zu tun gegeben. Wir haben
sie gerufen. «
»Und hier werden sie jahrhundertelang bleiben,
stimmt’s?«
»Genau!«
Sie sahen über die Brüstung.
Auf den östlichen Zinnen saß eine ganze Bande
von Ungeheuern.
Im Westen hockte eine Meute Sünden.
Im Süden war es ein Schwarm Alpträume.
Und im Norden wartete eine hübsche Anzahl von
namenlosen Lastern und irregeleiteten Tugenden.
»Ich hätte«, sagte Tom, der auf ihre nächtliche Arbeit stolz war, »nichts dagegen, hier zu leben.«
Der Wind heulte in den aufgerissenen Mäulern der
Bestien. Ihre Reißzähne zischten und pfiffen: »Vielen Dank.«
17

H
    immel und Hölle«, sagte Tom Skelitt und beugte sich über die Brüstung, »jetzt haben wir all
diese Greife und Dämonen aus Stein hergepfiffen,
aber Pipkin ist schon wieder weg. Warum können
wir ihn nicht herbeipfeifen?«
    Downground lachte. Sein Umhang knatterte im
Nachtwind, und seine Knochen klapperten dürr in
ihrer Hülle aus Haut.
    »Seht euch doch um! Er ist immer noch hier!«
»Wo?«
»Hier«, rief klagend eine leise, entfernte Stimme.
Die Jungen verbogen sich das Rückgrat, als sie
sich über die Brüstung beugten. Sie verrenkten sich
den Hals, als sie nach oben sahen.
    »Suchet, und ihr werdet finden, Jungs – das ist ein
Versteckspiel.«
Und selbst beim Suchen konnten sie nicht anders –
sie mußten einfach noch einmal die von Figuren
wimmelnde Fassade der Kathedrale bewundern, die
mit Schreckgestalten und

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