Bradbury, Ray - Halloween
Teil ist hier. Und ein Teil ist an einem schlimmeren Ort …«
»Wo?«
»Ich weiß nicht. Ich weiß einfach nicht. Eben noch
hab ich vor Lachen geschrien, und im nächsten Augenblick hab ich bloß noch Angst. Und jetzt gerade
glaube ich, nein, weiß ich, daß ich Angst habe. Helft
mir, Leute. Bitte, helft mir!«
Regentropfen flossen über seine Wangen wie Tränen.
Die Jungen streckten die Arme aus, um über Pipkins Kinn zu streichen, doch bevor sie das tun konnten …
… fuhr ein Blitz vom Himmel
Er zuckte blau und weiß.
Die ganze Kathedrale erbebte. Die Jungen mußten
sich an Dämonenhörnern und Engelsflügeln festhalten, um nicht hinunterzufallen.
Donner und Rauch. Ein Steinregen.
Pipkins Gesicht war verschwunden. Der Blitz hatte es losgemeißelt, und nun fiel es hinab, um auf dem
Boden zu zerschellen.
»Pipkin!«
Doch unten auf den Stufen vor dem Portal sprühten nur Feuersteinfunken, und feiner Wasserspeierstaub wurde davongeblasen. Nase, Kinn, steinerne
Lippen, harte Wangen, helle Augen, fein gearbeitete
Ohren – das alles wurde als Staub und Splitter vom
Wind davongetragen. Die Jungen sahen etwas wie
Geisterrauch, wie eine Pulverdampfblume nach
Südwesten treiben.
»Mexiko …« Downground, einer der wenigen
Menschen auf der Welt, die wußten, wie man etwas
aussprach, sprach das Wort aus.
»Mexiko?« fragte Tom.
»Das ist die letzte große Reise dieser Nacht«, sagte Downground und fuhr fort, jede einzelne Silbe genießerisch auszusprechen. »Pfeift, Jungs, brüllt wie
Tiger, faucht wie Panther, schreit wie Raubtiere!«
»Brüllen, fauchen, schreien?«
»Baut den Drachen wieder zusammen, den
Herbstdrachen. Klebt die Reißzähne, die Krallen und
feurigen Augen und blutigen Pranken wieder an. Befehlt dem Wind, ihn wieder zusammenzunähen und
uns hoch über der Erde weit dahinzutragen. Schreit,
Jungs! Wimmert, brüllt, kreischt!«
Die Jungen zögerten. Downground rannte auf dem
Sims an ihnen vorbei wie einer, der einen Stock an
einem Gartenzaun entlangrattern läßt. Er stieß jeden
Jungen mit Knie und Ellbogen an. Die Jungen fielen,
und im Fallen gab jeder sein persönliches Wimmern,
Brüllen, Kreischen von sich.
Sie fielen taumelnd durch den leeren Raum und
spürten, wie sich unter ihnen der Schwanz eines
mörderischen Pfaus mit blutunterlaufenen Augen
spreizte. Zehntausend durchdringend blickende Augen flogen auf sie zu.
Plötzlich schwebte um eine windumwehte, mit
Wasserspeiern besetzte Ecke der wieder zusammengesetzte Herbstdrachen und fing sie auf.
Sie packten zu, sie hielten sich am Rand, an den
Querstreben, dem wie eine Trommel dröhnenden Papier fest und klammerten sich an die Fetzen alter,
nach Fleisch riechender Löwenmäuler und mit Blut
verschmierter Tigerrachen.
Downground sprang und griff ebenfalls zu. Diesmal war er der Schwanz.
Der Herbstdrachen schwebte, wartete. Acht Jungen lagen auf den Wogen aus Zähnen und Augen.
Downground spitzte die Ohren.
Hunderte von Meilen entfernt liefen hungernde
Bettler irische Straßen entlang und bettelten an den
Türen um etwas zu essen. Ihre Schreie hallten durch
die Nacht.
Fred Fryer in seinem Bettlerkostüm hörte sie.
»Dorthin! Laßt uns dorthin fliegen!«
»Nein. Keine Zeit. Horcht!«
Tausende von Meilen entfernt erklang in der
Nacht das leise Hämmern der Totenuhrkäfer.
»Die Sargtischler von Mexiko.« Downground lächelte. »Sie sitzen auf den Straßen, mit ihren langen
Kisten und Nägeln und kleinen Hämmern und klopfen und klopfen.«
»Pipkin?« flüsterten die Jungen.
»Wir hören das Hämmern«, sagte Downground.
»Wir fliegen nach Mexiko.«
Der Herbstdrachen trug sie auf einer dreihundert
Meter hohen Flutwelle aus Wind brausend davon.
Die Wasserspeier mit ihren flötenförmigen Nasen
und aufgerissenen Mündern benutzten denselben
Wind, um ihnen ein Lebewohl nachzurufen.
18
S
ie schwebten über Mexiko.
Sie schwebten über einer Insel in einem See in
Mexiko.
Weit unten hörten sie Hundegebell in der Nacht.
Sie sahen ein paar Boote, die sich auf dem mondbeschienenen See wie Insekten bewegten. Sie hörten
eine Gitarre und einen Mann, der mit einer hohen,
traurigen Stimme sang.
Weit, weit entfernt, jenseits der dunklen Grenzen
des Landes, in den Vereinigten Staaten, rannten Kinderbanden und Hundemeuten lachend und bellend
und polternd von Tür zu Tür, in den Händen Beutel
mit süßen Schätzen, ausgelassen schreiend in dieser
Halloweennacht.
»Aber hier …« flüsterte Tom.
»Hier was?« fragte Downground, der
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