Bradbury, Ray - Halloween
herrlich häßlichen, gefangenen Ungeheuern besetzt war.
Wo war Pipkin unter all diesen dunklen Wesen aus
dem Meer, deren Kiemen aufgerissen waren wie
Mäuler, die einen endlos langen keuchenden Seufzer
tun? Wo unter all diesen wunderbar herausgearbeiteten Wahnwesen, die aus den Gallensteinen von
Nachtmahren gemacht waren? Wo unter all den Ungeheuern, die aus alten Erdbeben geboren und von
wütenden Vulkanen ausgespuckt worden waren und
nun zu Ängsten und Delirien erstarrten?
»Hier«, klagte abermals eine leise, vertraute
Stimme.
Und weit unten, auf halber Höhe und knapp über
einem Sims, glaubten die Jungen mit zusammengekniffenen Augen ein kleines, rundes, hübsches Engels-Teufels-Gesicht zu sehen, mit vertrauten Augen,
einer vertrauten Nase, einem freundlichen und vertrauten Mund.
»Pipkin!«
Lauthals rufend rannten sie die Treppe hinunter
und durch dunkle Gänge, bis sie an ein Fenster kamen. Draußen an der windumwehten Fassade, über
einem wirklich sehr schmalen Sims, hing das kleine,
zwischen so viel Häßlichkeit schöne Gesicht.
Tom ging zuerst. Er sah nicht nach unten und
preßte die Arme an die Wand. Ralph folgte ihm, und
auch die anderen schoben sich Zentimeter für Zentimeter voran.
»Paß auf, Tom, daß du nicht fällst!«
»Ich falle schon nicht. Da ist Pip.«
Und tatsächlich, da war er.
Sie standen aufgereiht direkt unter der vorspringenden Steinmaske, der Büste, dem Kopf eines Wasserspeiers und sahen auf zu dem mächtigen, feinen
Profil, der großen Stupsnase, den bartlosen Wangen,
dem verwuschelten Schopf aus Marmorhaaren.
Pipkin.
»Pip, zum Donnerwetter, was machst du hier?«
rief Tom.
Pip sagte nichts.
Sein Mund war aus behauenem Stein.
»Ach, das ist bloß ein Stein«, sagte Ralph. »Bloß
ein Wasserspeier, den einer vor langer Zeit gemeißelt
hat. Der sieht nur aus wie Pipkin.«
»Nein, ich hab ihn rufen hören.«
»Aber wie …«
Und dann gab der Wind ihnen die Antwort.
Er fegte um die hoch aufragenden Kanten von Nôtre-Dame. Er pfiff in den Ohren und wisperte in den
aufgerissenen Rachen der Wasserspeier.
»Ahhh …« flüsterte Pipkins Stimme.
Die Haare im Nacken standen ihnen zu Berge.
»Oooohh«, murmelte der Mund aus Stein.
»Hört ihr? Da ist es!« sagte Ralph aufgeregt.
»Still!« rief Tom. »Pip? Das nächste Mal, wenn
der Wind bläst, sag uns, wie wir dir helfen können.
Wie bist du hierher gekommen? Wie können wir
dich herunterholen?«
Stille. Die Jungen klammerten sich an die Felswand der großen Kathedrale.
Eine neue Bö strich vorbei und pfiff zwischen den
Zähnen des Jungen aus Stein.
»Immer …«, sagte Pips Stimme.
»… nur …«, fuhr sie nach einer Pause fort.
Stille. Mehr Wind.
»… eine …«
Die Jungen warteten.
»… Frage.«
»Immer nur eine Frage«, übersetzte Tom.
Die Jungen prusteten vor Lachen. Das klang nach
Pip.
»Na gut.« Tom dachte kurz nach. »Was machst du
hier oben?«
Der Wind heulte klagend, und die Stimme klang,
als käme sie aus einem tiefen, alten Brunnen:
»Ich … war … an … so … vielen … Orten … in
… so … wenigen … Stunden.«
Die Jungen knirschten mit den Zähnen und warteten.
»Sprich lauter, Pipkin!«
Der Wind kehrte zurück und klagte in dem offenen
Mund aus Stein.
Aber dann erstarb er.
Es begann zu regnen.
Und das war gut so. Denn die Regentropfen flossen kalt über Pipkins steinerne Ohren und durch seine Nase und sprudelten aus seinem Marmormund, so
daß er Silben einer flüssigen Sprache äußern konnte,
die aus Worten klaren, kalten Regenwassers bestand.
»Ah, viel besser!«
Er blies Nebel, er spuckte Sprühregen.
»Ihr hättet erleben sollen, wo ich gewesen bin! Du
liebe Zeit! Ich war als Mumie vergraben, ich war in
einem Hund gefangen!«
»Wir haben uns gedacht, daß du das warst, Pipkin.«
»Und jetzt das hier«, sagte der Regen im Ohr, in
der Nase, im klares Wasser sprudelnden Marmormund. »Herrje, das ist komisch, seltsam, in diesem
Stein zu stecken, mit all diesen Teufeln und Dämonen
als Kumpels! Und wer weiß, wo ich in zehn Minuten
sein werde? Noch weiter oben? Oder tief begraben?«
»Ja, Pipkin – wo?«
Die Jungen schwankten. Der Regen peitschte sie,
so daß sie fast das Gleichgewicht verloren hätten und
vom Sims gefallen wären.
»Bist du tot, Pipkin?«
»Nein, noch nicht«, sagte der kalte Regen in seinem Mund. »Ein Teil von mir ist in einem Krankenhaus, weit weg von zu Hause, ein Teil ist in dieser
alten ägyptischen Grabkammer. Ein Teil ist im Gras
in England. Ein
Weitere Kostenlose Bücher