Braig & Neundorf 12: Schwabenehre
Zöpfchen links und rechts über den Ohren, einem schmalen, auf der linken Seite von dunklen Flecken übersäten Gesicht, die Augen hinter einer großen Brille mit dunklen Gläsern verborgen. »Du glaubst wirklich, die Brille dient nur dazu, ihre Verletzungen zu verbergen?«
»Zumindest die dunklen Gläser. Wahrscheinlich war es ihr peinlich, die Wunden offen zu zeigen«, hatte Dolde spekuliert, »obwohl sie auch so zu erkennen sind.«
»Woher können diese Verletzungen rühren? Von einem Sturz?«
»Möglich, ja. Vielleicht wurde sie aber auch von jemand verprügelt. Irgendwann in der Nacht. Wenn ich das richtig beobachtet habe, war sie ja in dem Shop, um sich irgendwelche Salben oder Cremes zu besorgen.«
»Wegen ihrer Verletzung?«
»Um die Wunden abzudecken oder die Heilung zu fördern, schätze ich mal. Vielleicht auch, um die Schmerzen zu mildern. Demnach ist es nicht allzu lange vorher passiert.«
»Ob das mit dem Überfall in Verbindung steht?«
»Das scheint mir jetzt doch etwas zu weit her geholt«, hatte Dolde geantwortet, »die Frau war vor dem Geschehen im Laden, vergiss das nicht. Selbst wenn sie beim Verlassen des Shops die Täter irgendwo gesehen hat – ihr Gesicht war zu diesem Zeitpunkt von den Wunden längst gezeichnet, woher auch immer.« Er hatte Neundorf die Vergrößerungen übergeben, sich dann freundlich in den, wie er es formuliert hatte, wohlverdienten Feierabend verabschiedet.
Unmittelbar nach dem Anruf im Ludwigsburger Klinikum war sie dann bei Christa Wössner in Marbach vorstellig geworden. »Ich muss mit Ihrem Mann sprechen«, hatte sie ihr am Telefon erklärt. »Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus müsste das doch jetzt möglich sein.«
»Es geht ihm nicht gut«, hatte die Frau geantwortet, »er liegt im Bett und schläft.«
»Wir benötigen seine Hilfe. Jeder noch so unscheinbare Hinweis auf den oder die Täter kann uns entscheidend weiterhelfen. Wir müssen alles wissen, was er beobachtet hat, sonst kommen wir nicht weiter. Ich möchte Ihrem Mann nur ein paar Fragen nach dem genauen Tathergang stellen, sonst nichts. Sie dürfen gerne dabei sein, das wäre mir sogar recht. Vielleicht können Sie selbst auch zur Aufklärung beitragen, falls er mit Ihnen schon über den Vorfall gesprochen hat.«
»Mit mir? Ich muss Sie enttäuschen. Er liegt nur im Bett und schläft. Das habe ich Ihrem Kollegen doch schon klargemacht, dass ich nichts weiß.«
Neundorf hatte dennoch auf einem Besuch in Marbach bestanden, sich für 14 Uhr am frühen Nachmittag verabredet. Die Wohnung der Familie Wössner lag im Obergeschoss eines alten Hauses am Rand der berühmten Altstadt, keine 300 Meter vom Geburtshaus Friedrich Schillers entfernt. Neundorf hatte das stimmungsvolle Gassenensemble auf dem Steilhang hoch über dem Neckar schon mehrfach besucht, meist der Unteren Holdergasse bis zum Haspelturm folgend, dann am Heinlinschen Hof vorbei zur beidseits von sehenswerten Hausfassaden gesäumten Marktstraße hoch laufend. Viele Aufenthalte in der romantischen Altstadt hatte sie gemeinsam mit ihrem Sohn Johannes und ihrem Partner Thomas Weiss dazu benutzt, in den Büchern der beiden in der Marktstraße beheimateten Buchhandlungen zu stöbern, oft waren sie dort auch im gemütlichen Café Winkler eingekehrt. Höhepunkt einer jeden Marbach-Tour war der grandiose Ausblick von der Schillerhöhe aufs Neckartal. Der in die Grünanlagen vor dem Schiller-Nationalmuseum und dem Literaturmuseum der Moderne gebettete Lenauweg bot eine herrliche Rundumsicht auf das unmittelbar am Fuß des Hangs fließende Gewässer, die das Tal überquerende Eisenbahnbrücke und die Weinberge jenseits der Flussbiegung. Die roten Dächer von Murr und Benningen, dazu die der alten Ortschaften Beihingen, Geisingen und Heutingsheim, die heute unter dem gemeinsamen Namen Freiberg firmierten, ragten, durch ein Wirrwarr von Straßen miteinander verbunden, aus dem dicht besiedelten Landstrich westlich des Neckars auf. Mit bloßem Auge ließen sich die nördlichen Ausläufer Ludwigsburgs, Tamms, Bietigheim-Bissingens und Gross-Ingersheims, dazu das Gedränge auf der den Fluss bei Pleidelsheim überquerenden Autobahn wie die den Horizont dominierende Erhebung des Hohenaspergs mit seiner über die Jahrhunderte hinweg als Gefängnis genutzten massiven Festung erkennen. Bei fast jedem ihrer Besuche waren sie alle paar Meter stehen geblieben, den Ausblick in immer neuen Variationen genießend, hatten das besondere Vergnügen abgewartet,
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