Braig & Neundorf 12: Schwabenehre
von ihrer Besucherin ab, lief aus dem Zimmer, verschwand im Flur.
Neundorf hatte keine Zweifel, was den Wahrheitsgehalt der Aussagen ihrer Gesprächspartnerin anbetraf. Zu oft schon hatte sie im Zusammenhang mit ihren Ermittlungen mit den nur noch ausbeuterisch zu nennenden Maßnahmen vieler Firmen, dem rücksichtslosen Umgang mit deren Angestellten, dem Kampf gegen gewerkschaftliche Aktivitäten jeder Art gehört. Unmittelbar mit den Auswirkungen dieser menschenverachtenden Praktiken konfrontiert zu werden, erschütterte sie jedoch jedes Mal aufs Neue. Sie hörte das schrille Quietschen einer Tür, dann die besänftigende Stimme der Frau.
»Nein, du brauchst keine Angst zu haben. Es ist alles in Ordnung. Du hast nur schlecht geträumt. Mein Gott, bist du wieder nass geschwitzt.«
Neundorf erhob sich, ging aus dem Raum, sah Christa Wössner wenige Meter entfernt aus einem Zimmer treten.
»Hier, schauen Sie ihn sich an, damit Sie zufrieden sind. Vielleicht begreifen Sie dann endlich, warum er seine Ruhe braucht«, maulte die Frau.
Die Kommissarin trat näher, warf einen Blick in einen mit Schränken, Kommoden und einem massiven Doppelbett fast bis auf den letzten Quadratzentimeter vollgestellten, zusätzlich von einer Dachschräge begrenzten Raum. Sie sah das hochrote Gesicht eines älteren, angespannt wirkenden Mannes aus der rechten Betthälfte auf sich gerichtet, merkte, dass er heftig nach Luft rang. Graue, ungepflegte Haarsträhnen klebten an seinem Kopf, Schweißperlen tropften ihm von den Wangen. Er glich nur entfernt der Person, die sie von den Bildern der Überwachungskameras des Tankstellenshops her kannte. Sein aus dem Bett ragender Arm zitterte, die gesamte Bettdecke vibrierte bei den Versuchen, Sauerstoff in seine Lungen zu pumpen. Neundorf roch das unappetitliche Gemisch aus Schweiß und abgestandener Luft, das ihr aus dem Zimmer entgegenquoll, verzichtete darauf, ein Gespräch mit dem Mann zu beginnen. Einen ungünstigeren Moment für ein solches Unterfangen hätte sie sich kaum aussuchen können, das war nicht zu übersehen.
19. Kapitel
Nina Jaissle. Mario Aupperle war nicht auf das unscharfe Foto aus dem Album angewiesen, sich das Aussehen der Frau vor Augen zu holen. Er hatte ihren Anblick gespeichert, wie ein Computer, dem der Befehl eingegeben worden war, E-Mail-Informationen auf die Festplatte zu bannen.
Nina Jaissle. Auch wenn er sie noch nie lebendig erlebt hatte, war sie ihm dennoch keine Fremde mehr. Er kannte sie in- und auswendig, konnte sie jederzeit in Gedanken vor sich erstehen lassen. Von Kopf bis Fuß. Ohne jede Verhüllung. Wie Gott sie erschaffen hatte.
Ob sie mit einem Mann zusammenlebte oder mit einem neuen Freund – nach der Trennung von Schmiedle – durchs Leben ging? Er hatte vergessen, sie danach zu fragen, musste versuchen, es jetzt bei seinem Besuch herauszufinden.
Aupperle hatte sich nach weiterer gründlicher Durchsicht der übrigen Fotos gegen 17.30 Uhr auf den Weg zu seinem Wagen gemacht, hatte das Album aufgeschlagen mit dem Bild der jungen Frau, die er aufzusuchen gedachte, auf den Beifahrersitz seines BMW gelegt, dennoch nur während einer roten Ampelphase einen Blick darauf geworfen. Wozu auch, der Anblick war ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen. Mei liabs Rotteburg am Neckar, zum Glück saß der Bischof nicht mit im Auto. Diese Kurven hätten auch den Papst persönlich ins Schwitzen gebracht.
Aupperle heizte nach Esslingen, so schnell er konnte, kämpfte sich durch das Verkehrsgewirr rund um das Hochschulzentrum, fand nach einigem Hin und Her die Hausnummer und einen Parkplatz in der parallel verlaufenden Leuschner Straße. Er griff nach dem Album, steckte es in seine Ledermappe, die er, bestückt mit Notebook, Papier und mehreren Kugelschreibern, bei jeder Ermittlung gewohnheitsmäßig mit sich führte, marschierte dann schnurstracks zu dem Wohnblock, der die Gesuchte der Hausnummer nach beherbergte. Das Namensschild wies auf eine Wohnung im ersten Obergeschoss.
Aupperle drückte kräftig auf die Klingel, hörte kurz darauf die vom Telefon her bekannte Stimme etwas verzerrt aus dem Lautsprecher. Sie klang ziemlich erbost.
»Welcher Elefant ruiniert da mein Trommelfell?«
»Aupperle«, meldete er sich, »Sie wissen schon.«
Sie ließ ihn ein paar Sekunden warten, betätigte dann den Türöffner. Er sah die breite Treppe, schaute sich erst gar nicht nach einem Fahrstuhl um, nahm jeweils zwei Stufen auf einmal. Leicht außer Atem kam er vor
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