Braig & Neundorf 12: Schwabenehre
einen der langen roten S-Bahn-Züge über das nahe eingleisige, das Neckartal überspannende Viadukt fahren zu sehen.
Heute jedoch fand Neundorf keine Zeit, die stimmungsvolle Atmosphäre der alten Stadt und ihrer Umgebung auf sich wirken zu lassen. Sie war voll und ganz auf ihre Ermittlungen konzentriert, erhoffte sich von dem Besuch in Friedrich Schillers Geburtsort Details über den Tathergang, das Verhalten der Verbrecher, Hinweise jedweder Art auf deren Identität.
Christa Wössner stand mit mürrischer Miene am oberen Ende der knarzenden Treppe, gab sich keine Mühe, ihre mangelnde Begeisterung über Neundorfs Erscheinen zu verbergen. Nach kurzer Begrüßung lief sie vor der Kommissarin her ins von einer Dachschräge geprägte Wohnzimmer, blieb abwartend an einem der unter den dunklen Tisch geschobenen Stühle stehen.
Neundorf schaute sich um, nahm die ungewohnt altmodisch, ja teilweise ärmlich wirkende, den Mief vergangener Jahrzehnte ausstrahlende Einrichtung wahr: Die klobige, mahagoni-farbene, an mehreren Stellen von Kratzern und Dellen beschädigte Schrankwand, der – ähnlich wie die teilweise ausgebleichte, von großen Rosenblüten überzogene Tapete – mit roten Blumen bedruckte Stoff des von der Decke baumelnden Lampenschirms, der abgetretene, an mehreren Stellen fast durchgescheuerte Teppich, unübersehbar ein billiges Orient-Imitat. Die Kommissarin hatte Mühe, ihre Verwunderung über das altbackene abgenutzte Interieur zu verbergen, bemerkte das verkniffene Gesicht der Frau.
Christa Wössner sah keinen Anlass, ihrer Besucherin einen Stuhl anzubieten. »Herbert schläft tief und fest«, presste sie stattdessen abweisend hervor, »er braucht seine Ruhe.«
Neundorf war nicht gewillt, sich einfach so abspeisen zu lassen. »Dann können Sie mir ja solange, bis er wieder wach ist, berichten, was er Ihnen erzählt hat. Den Überfall betreffend, meine ich«, fügte sie erklärend hinzu.
»Nichts. Er hat mir nichts erzählt«, antwortete die Frau, an Neundorf vorbei zur Seite blickend.
»Nichts, überhaupt nichts?«
»Er leidet an einem Trau …« Christa Wössner bemühte sich um den richtigen Ausdruck, schaute sich Hilfe suchend nach ihrer Besucherin um. »Die Ärzte sagen es.«
»An einem Trauma«, ergänzte Neundorf, »einem Schock infolge des Überfalls. So geht es fast allen Opfern, ja. Aber genau deswegen benötige ich Ihre Hilfe. Ihre und die Ihres Mannes. Damit wir die Täter endlich erwischen, bevor sie noch mehr Opfer finden, verstehen Sie?«
Die Frau nickte zögernd, starrte auf den Tisch. Eine alte, fein gehäkelte, aber längst vergilbte Decke erstreckte sich der Länge nach in seiner Mitte.
»Er wurde schon einmal überfallen«, versuchte es die Kommissarin mit einem neuen Anlauf.
Christa Wössners Augen verengten sich im Augenblick einer Sekunde zu schmalen Schlitzen, ihr ganzer Körper verkrampfte. »Und?«
»Na ja, um so schlimmer setzt ihm jetzt dieses neue Verbrechen zu, nehme ich an.«
Es dauerte mehrere Sekunden, bis die Frau die Aussage ihrer Gesprächspartnerin begriffen hatte. Sie entspannte sichtbar, verlor ihre stocksteife Körperhaltung. »Dann verstehen Sie ja, warum er nur im Bett liegt und schläft.«
»Letzten Herbst, frühmorgens am 4. Oktober. In der Nacht nach dem Nationalfeiertag. Zwei Männer, seiner Aussage zufolge.«
»Sie wissen ja schon alles.«
»Er wurde verletzt.« Neundorf ließ sich nicht unterbrechen, sprach einfach weiter. »Weshalb?«
Christa Wössner betrachtete sie missmutig aus den Augenwinkeln. »Sie wissen es doch.«
»Er hat sich gewehrt. So hat er es jedenfalls dargestellt.«
»Was soll das heißen? Wollen Sie das jetzt auch noch abstreiten?« Die Frau hatte ihre Stirn in Falten gelegt, starrte wütend zu ihr hinüber. Frust und Verbitterung standen ihr ins Gesicht geschrieben, gepaart mit purer Ablehnung, sich auf ein ernsthaftes Gespräch einzulassen.
Neundorf war nicht länger bereit, ihr ungelenk an den Tisch lehnend ein paar Worte zu entlocken, zog einen Stuhl heran, ließ sich darauf nieder. Das alte Mobiliar ächzte und knarzte, schwankte bedrohlich hin und her.
Christa Wössner schien das unhöfliche Verhalten ihrer Besucherin nicht bemerkt zu haben. »Die Überwachungskameras haben es aufgenommen. Sie zeigen, dass Herbert sich dagegen gewehrt hat, die Kasse zu öffnen. Daraufhin hat ihn der eine Kerl niedergeschlagen. Mit einer Flasche aus dem Regal. Die Kameras haben es aufgenommen, ich habe es selbst
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