Braig & Neundorf 12: Schwabenehre
gesehen.«
Neundorf nickte zustimmend, wollte ihr Gegenüber nicht unnötig reizen. Sie hatte den Bericht des Kollegen, der Wössners ablehnendes Verhalten bestätigte, heute morgen gelesen. Die Überwachungskameras zeigten in der Tat, wie der Verkäufer von der Kasse zurückwich und mit seinen Händen deutlich gestikulierte, dass er nicht bereit war, sie zu öffnen, obwohl der Vermummte eine Waffe auf ihn gerichtet hielt. Erst nachdem einer der Verbrecher über die Theke geklettert war und mit einer Flasche auf ihn eingeschlagen hatte, war es den Tätern gelungen, sich über die Kasse und das Geld her zu machen.
Ein heldenhaftes Verhalten des Mannes, überlegte sie, oder sollte man es eher leichtsinnig nennen? Was, wenn der Täter nicht mit der Flasche losgeprügelt, sondern – und sei es auch nur im Affekt – geschossen hätte? Neundorf war skeptisch, was solche Verhaltensweisen anbetraf, handelte es sich doch um Situationen, in denen rationale Überlegungen fast vollkommen ausgeblendet waren und Stress und unberechenbare Emotionen die Sinne dominierten. Sie sah die nach wie vor verbitterte Miene der Frau, nötigte sich ein: »Ihr Mann hat sich sehr tapfer verhalten, damals«, ab.
Christa Wössner ließ ein verächtliches Zischen hören. »Als ob ihm das was genutzt hätte.«
»Er hat keine Belohnung von seiner Firma erhalten?«
»Belohnung?« Die Stimme der Frau drohte sich zu überschlagen. »Leben Sie auf dem Mond?«
Wieso auch, überlegte sie, sein anfänglicher Widerstand hatte nichts gebracht, der Laden war dennoch beraubt worden, ob mit oder ohne Gegenwehr.
»Wir sind ja schon froh, dass er den Job nicht verloren hat, so wie die ihre Angestellten behandeln. Zum Glück haben die keine Ahnung, welche Angst es ihm heute noch macht, zur Nachtschicht zu gehen.«
»Weshalb sucht er nicht nach einem anderen …« Neundorf brach mitten im Satz ab, ärgerte sich über sich selbst. Was für ein dämliches Gelaber! Wo lebte sie, vielleicht doch auf dem Mond? Sie sah Christa Wössners rot angelaufene, verkniffene Grimasse, fügte schnell: »Er könnte wenigstens tagsüber arbeiten anstatt nachts«, hinzu.
»Sie glauben wirklich, das ist so einfach?« Ihre Gesprächspartnerin gab sich keine Mühe, ihre Verachtung angesichts solch realitätsferner Bemerkungen zu verbergen. Sie schüttelte ihren Kopf, wandte ihr Gesicht zur Seite. »Mit Achtundfünfzig müssen Sie froh sein, wenn Sie überhaupt noch etwas bekommen. Und das ist eben das, was andere nicht wollen. Von irgendwas müssen wir schließlich leben, oder glauben Sie, wir machen auf Hartz IV? 7,10 Euro die Stunde inklusive Nachtzuschlag, von abends um Acht bis morgens um Acht sind das immerhin 71 Euro. Sauer verdientes Geld.«
»85,20 Euro«, berichtigte Neundorf, nachdem sie die angegebenen Zahlen im Kopf blitzschnell überschlagen hatte, »zwölf Stunden, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Von abends 20 Uhr bis morgens 8 Uhr.«
»71 Euro«, beharrte Christa Wössner mit strengem Kopfschütteln, »ich weiß, was Herbert verdient. Brutto. Die letzten beiden Stunden gelten als Servicezeit, sie werden nicht bezahlt. Den Boden nass putzen, die Regale auffüllen, das Geld überprüfen. Der Laden muss sich in Topform präsentieren, wenn der Kollege um Acht seine Tagschicht beginnt.«
»Zwei unbezahlte Stunden – jeden Tag?«
»Zwei für die Nachtschicht und zwei für die Tagschicht. So kommen sie mit zwei Schichten und möglichst wenig Personal über die Runden.«
»Und die Verkäufer müssen den Laden auch noch selbst reinigen, nass?«
»Die Firmenleitung schickt Kontrolleure, die überprüfen, ob sich irgendwo verschmutzte Ecken finden. Verschmutzte Ecken und nicht bis oben hin aufgefüllte Regale. Alle paar Tage tauchen diese Typen auf, sehen sich im Laden um und fotografieren. Das wird dann dokumentiert und sorgsam in der Personalakte aufbewahrt, damit sie den Leuten keine Abfindung zahlen müssen, wenn sie sie auf die Straße werfen. Das kommt schließlich oft genug vor.«
»Wie steht es mit dem Betriebsrat? Versucht der sich nicht gegen diese offenkundigen Gesetzesverstöße zu wehren?«
Christa Wössners Miene drohte erneut rot anzulaufen. »Betriebsrat?« Sie gab ein verächtliches Zischen von sich. »Das sind Marionetten der Geschäftsführung, keine Interessenvertreter der …« Sie brach mitten im Satz ab, schaute zur offenstehenden Tür, durch die lautes Stöhnen zu vernehmen war. »Oh Gott, er hat wieder seine Träume.« Sie wandte sich
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