Braig & Neundorf 12: Schwabenehre
erfasste.
»Wir kennen uns«, fuhr er in jovialem Ton fort, »gut. Gemeinsame Studientage, Sie verstehen?«
Braig hatte heftig daran zu arbeiten, den Kloß, der in seinem Hals steckte, zu schlucken, bekam keine Luft mehr. »Akademiker«, würgte er bemüht lässig hervor.
Dr. Enssle warf ihm einen amüsierten Blick zu, ließ ein kurzes Lachen hören. »Akademiker. Ja, das verbindet.« Er drehte sich zur Seite, ließ seine junge Sekretärin passieren, die ein Tablett mit zwei Tassen Kaffee, einem Kännchen Milch und einer Dose Würfelzucker sowie einem Glas Wasser brachte und die einzelnen Teile dann auf dem Tisch abstellte, bedankte sich bei ihr und wartete, bis die Frau den Raum verlassen hatte. »Milch oder Zucker?«, fragte der Mann, griff nach seiner Tasse, empfahl seinen Besuchern mit einer jovialen Geste, es ihm gleich zu tun, trank einen Schluck.
Braig nahm seinen Kaffee, gab Milch dazu, hörte die nächsten Worte ihres Gastgebers.
»Herr Söderhofer wusste über Ihren Besuch bei mir offenbar nicht Bescheid.«
Er will uns drohen, spürte Braig, der Kerl will uns zeigen, dass er noch lange nicht am Boden liegt. Natürlich hatte er Söderhofer in Absprache mit Riedinger gestern Abend nichts über den geplanten Besuch bei Enssle erzählt, ihn nicht einmal über den Drohbrief und die Fotos informiert, das Evaluations-Briefing vielmehr mit seinen bisher vergeblichen Nachforschungen, eine eventuelle Erpressung der Firma Göttler betreffend, ausgefüllt, hatte er sich doch weitgehend sinnlose Abhandlungen über die göttergleiche Stellung eines solchen Managers ersparen wollen. Enssles Cleverness, von sich aus Verbindung zu der Staatsanwaltschaft aufzunehmen, hatte er unterschätzt. Der alte Klüngel, überlegte er, die üblichen Seilschaften. Ihr da oben, wir da unten. Er sah das kurze Aufblitzen in Riedingers etwas bleicher Miene, spürte impulsiv die Wut, die auch seine Kollegin gepackt hatte.
»Ja, die Staatsanwälte«, versuchte er, Fassung zu bewahren, »die sind oft so überarbeitet, dass sie sich nicht um alles kümmern können.« Er griff in seine Tasche, zog das Kuvert mit den Kopien des Drohschreibens und der Fotos vor, klatschte alles auf den Tisch unmittelbar zwischen die Tassen und das Glas. »Aber das hier wird auch Herr Söderhofer bald zu Gesicht bekommen.«
Dr. Enssle reagierte weit gelassener, als er es erwartet hatte. Er warf einen Blick auf die Kopie seines Briefes, griff demonstrativ nach seiner Tasse, trank genüsslich von dem Kaffee. »Ich habe Herrn Söderhofer heute morgen über dieses Schreiben in Kenntnis gesetzt. Nicht, dass irgendjemand auf falsche Gedanken kommt. Er zeigte vollstes Verständnis. Ja, im Leben geht es manchmal eben etwas, wie soll ich sagen, hemdsärmeliger zu.«
»Hemdsärmeliger nennen Sie das?«, konterte Riedinger, zitierte aus dem Brief. »Dies hätte katastrophale Auswirkungen für Sie persönlich. Es hatte katastrophale Auswirkungen. Herr Schmiedle ist tot.«
»Eine unglückliche zeitliche Nähe«, gab Dr. Enssle zu, ein weiteres Mal an seinem Kaffee nippend, »wer konnte ahnen, was da passiert?«
»Sie hatten sich mit ihm verabredet«, erklärte Braig, angesichts der unverfrorenen Süffisanz des Mannes jeden diplomatischen Anflug beiseite schiebend, »am Dienstagmorgen um 9.30 Uhr auf der Herrentoilette in der Ebene vier der Liederhalle. Deshalb wussten Sie so genau, wie viel Uhr es war, als Sie zur Toilette kamen.«
Sein Gegenüber blickte ihm offen in die Augen. Seine Miene hatte nichts, aber auch gar nichts von seinem jovialen Lächeln verloren. »Genau das habe ich Herrn Staatsanwalt Söderhofer vorhin bei unserem Gespräch mitgeteilt. Herr Schmiedle und ich wollten uns treffen, noch einmal miteinander sprechen. Am Dienstagmorgen, der Kongress hatte gerade begonnen, um 9.30 Uhr vor der Toilette auf der Ebene vier. Wir wollten uns noch einmal austauschen, sein Mittagsreferat betreffend. Zu Kongressbeginn laufen keine entscheidenden Vorträge. Nur Begrüßungen, Einführungsworte und ähnliches Palaver. Da versäumen Sie nichts, wenn Sie kurz aus dem Saal verschwinden. Und oben in Ebene vier ist es immer ruhig. Fast immer.« Dr. Enssle setzte seine Tasse ab, lächelte ihnen freundlich zu.
»Sie geben das also zu?«, fragte Braig. Er hatte Mühe, Worte zu finden, konnte seine Überraschung nicht verbergen.
»Was heißt zugeben? Es war so. Solche Treffen auf Kongressen sind allgemein üblich. Nicht vor oder in Toiletten versteht sich, eher in
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