Braig & Neundorf 12: Schwabenehre
verunsichert! Das war nicht gespielt, nicht inszeniert gewesen. Diese unverblümte Offenbarung menschlicher Schwäche war weit unter seiner Würde – erklärbar nur aus einem völlig unerwarteten Erlebnis heraus, das ihm den Boden unter den Füßen entzogen und ihn völlig aus der Bahn geworfen haben musste. Was konnte das anderes gewesen sein als das unverhoffte Zusammentreffen mit den Überresten des Mannes, mit dem er sich zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort hatte unterhalten wollen?
»Ob Sie mir es glauben oder nicht: Das war einer der schlimmsten Momente meines Lebens. Der Mann auf der Schüssel dieser Kabine …« Dr. Enssle sah auf, blickte zuerst Braig, dann Riedinger in die Augen. »Schmiedle, ich weiß nicht, wann ich es begriffen habe, dass es sich um ihn handelte. Ich kannte ihn nicht näher, nur als überaus erfolgreichen Manager, Tag und Nacht tätig, besessen von seinem neuen Entlohnungsmodell, privat von einer Affäre in die nächste schlitternd, was man eben so hört. Aber dann dieser Anblick … Ich war am Boden, Sie müssen mich entschuldigen. Ich war Ihnen vorgestern keine große Hilfe und kann Ihnen auch jetzt nicht sagen, ob die Kabinentüren offen waren oder nicht.« Er schwieg einen Moment, fuhr dann, bevor einer der beiden Kommissare etwas sagen konnte, fort: »Ich glaube aber, dass die Türen alle angelehnt, das heißt, zwar nicht ins Schloss gefallen, optisch aber scheinbar geschlossen waren. Man konnte von außen nicht sehen, ob sich jemand in ihnen befindet oder nicht. Ich habe es mir angewöhnt, beim Besuch einer öffentlichen Toilette möglichst eine Kabine zu benutzen, deren Nachbarräume ebenfalls unbesetzt sind. Ich finde die ganze Atmosphäre nicht besonders angenehm … Deshalb gehe ich beim Betreten einer Toilette an den Kabinen vorbei und prüfe zuerst, welche Kabine frei ist. Ich meine, ich habe es auch am Dienstagmorgen so getan. Ich lief an den Türen vorbei, schob sie nach innen und plötzlich, hinter der zweiten oder dritten, sehe ich einen Körper liegen …«
»Sie haben sofort erkannt, dass es sich um Schmiedle handelt?«
»Erkannt?« Dr. Enssle schüttelte seinen Kopf. »Nein, ich habe ihn nicht erkannt. Ich lief sogar noch weiter, drückte alle anderen Türen auf, sowohl die links als auch die rechts, fragen Sie mich nicht, warum, alles in alter Gewohnheit und näherte mich dann langsam wieder der Kabine, wo der Körper lag. Ich glaube, ich wollte es zuerst nicht wahrhaben, was ich da sah: dass es sich um einen Menschen, einen toten Menschen handelte und nicht etwa um eine Puppe. Dass der Tote aber Schmiedle war … Ich glaube, das kam mir erst in dem Moment, als ich aus der Toilette rannte. Nicht, dass er es wirklich war, nein, aber dass die Möglichkeit bestand, dass er es sein könnte, schließlich waren wir dort zu der Zeit verabredet gewesen. In dem Moment wollte ich weg, nur noch weg. Ich rannte aus der Toilette und plötzlich stand da diese Frau von der Liederhalle vor mir und sprach mich an.«
»Warum haben Sie mir nicht sofort erzählt, dass es sich möglicherweise um Schmiedle handeln könnte?«
Dr. Enssle richtete sich auf, sah Braig offen ins Gesicht. »Sie haben mich nicht danach gefragt, ganz einfach, ob ich glaube, den Toten zu kennen. Und ich war zu erschöpft, darüber zu spekulieren, ob es sich um Schmiedle handelt oder nicht.«
Braig fühlte sich ertappt wie ein Schüler, der vom Lehrer abgehört wird und zugeben muss, dass er seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Sie haben mich nicht danach gefragt. Vollkommen korrekt war diese Aussage nicht. Er hatte von Enssle mehrfach wissen wollen, weshalb er gerade diese abgelegene Toilette aufgesucht hatte und darauf nur eine ausweichende Auskunft erhalten, ärgerte sich dennoch darüber, den Mann nicht schlicht und einfach mit der Frage konfrontiert zu haben, die sich in einem solchen Fall natürlich stellte: Kennen Sie den Toten oder haben Sie Hinweise auf seine Identität? Stattdessen war er den halben Tag unterwegs gewesen, die Identität Schmiedles zu ermitteln. Dummheit, unverzeihliche Dummheit. Er hörte das Räuspern seiner Kollegin, schaute zur Seite.
»Die Fotos«, erklärte Riedinger, »weshalb haben Sie sie ihm geschickt, und wo haben Sie sie her?«
Dr. Enssle wandte seinen Blick zum Tisch, hob beide Hände in die Höhe. »Tut mir leid. Das ist jetzt doch unter meinem Niveau. Ich weiß nicht, was das mit mir zu tun haben soll. Diese Fotos habe ich noch nie gesehen.«
»Wie bitte?«
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