Braig & Neundorf 12: Schwabenehre
Haare hatten an Fülle verloren, reichten zudem nur bis knapp über die Ohren.
Neundorf spürte den an sich gedrückten Körper der Frau vor Schmerz erschauern, strich ihr sanft über den Rücken.
»Wieso?«, fügte der Mann hinzu. »Wieso unser Micha?«
Sie spürte, wie die Frau sich sachte von ihr löste, ließ sie aus ihrer Umarmung frei.
»Welcher Teufel hat das getan?«
Neundorf hörte das leise Schluchzen Annika Jungs, reichte allen der Reihe nach die Hand, blieb bei der jungen Frau stehen, fuhr ihr langsam über die Haare.
»Kriegen Sie den Scheißkerl?«, fragte Andreas Napf.
Männer, fuhr es ihr durch den Kopf, Männer. Anstatt seine Frau, seinen Sohn, anstatt die Freundin des Getöteten zu trösten, diese Frage. Kriegen Sie den Scheißkerl? Wurde sein Sohn dadurch wieder lebendig? Änderte ein Ermittlungserfolg irgendetwas am grauenvollen Schicksal des Ermordeten?
»Oder lassen Sie den davonkommen?«
Sie ging nicht auf seine Fragen ein, ersparte sich sämtliche Plattitüden, die von einer ermittelnden Kriminalkommissarin erwartet wurden. Wir kriegen den Verbrecher. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass der den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringt. Der wird büßen, das können Sie mir glauben, so wahr ich hier stehe. Was änderten all diese Sprüche am viel zu frühen Tod des jungen Mannes?
»Trauen Sie sich das überhaupt zu oder ist das nicht eine Nummer zu hoch für Sie?«
Neundorf versuchte, das Geschwätz des Mannes als seinen individuellen Versuch der Bewältigung des schrecklichen Geschehens zu verstehen, sich mit diesen – wohl spezifisch männlichen – Phrasen über seine Ohnmacht hinweg zu palavern, sah deshalb keinen Anlass, sich provozieren zu lassen. Noch nicht. Seine markigen Sprüche, Resultate unverarbeiteter emotionaler Verwirrungen, hatten keinen rationalen Kern. Wenn Mann schon nichts mehr tun kann, das Leben seines Sohnes zu retten, dann wenigstens mit deutlichen Worten Stärke zeigen, so hirnrissig ihre Bedeutung auch sein mochte. Männer, überlegte sie, erklärte das nicht alles?
»Wieso schicken die überhaupt Sie?«
Sie sah, wie Annika Jung zusammenzuckte, spürte, wie sehr die aggressiven Worte des Mannes sie belasteten.
»Jetzt lass das doch endlich«, bettelte Anne Napf.
»Ich will wissen, warum nichts getan wird, den Teufel zu fangen«, polterte ihr Mann mit lauter Stimme.
Neundorf sah sich gezwungen, zu reagieren. Sie wandte ihren Kopf zur Seite, fixierte Napf mit offenem Blick. »Ich weiß, dass Sie gestern einen schrecklichen Schicksalsschlag erleiden mussten. Ihnen wurde einer der vertrautesten Menschen geraubt, die Sie haben. Mir ist klar, unter welcher Anspannung Sie jetzt stehen und wie Sie sich fühlen. Aber seien Sie versichert, dass wir alles tun, den Teufel, der Ihren Sohn, Ihren Bruder, Ihren Freund«, sie nahm Annika Jungs Hände, hielt sie fest, »auf dem Gewissen hat, zu ermitteln.« Sie sah den trotzigen Blick des Mannes, verstärkte den Ton ihrer Stimme. »Ich bin leitende Kriminalhauptkommissarin bei der Abteilung Gewaltkriminalität des Landeskriminalamtes. Ich bin jetzt seit über fünfzehn Jahren im Dienst. Reicht Ihnen diese Erklärung, was meine Kompetenz anbetrifft, oder soll ich Ihnen einen kleinen Überblick über all die Mörder und Vergewaltiger geben, die ich in den vergangenen Jahren gejagt und hinter Gitter gebracht habe?« Sie fühlte sich nicht besonders wohl bei diesen markigen Worten, bereute sie im Nachhinein – genau die hohlen Phrasen, die sie eigentlich verabscheute – sah aber an der Reaktion des Mannes, dass es genau die richtige Methode gewesen war, ihn einigermaßen zur Vernunft zu bringen.
Napf lehnte sich im Sofa zurück, winkte beschwichtigend mit seiner rechten Hand, deutete ein sachtes Kopfnicken an. »Entschuldigen Sie, ich habe das nicht so gemeint. Ich weiß nicht, meine Nerven …« Er verstummte, ersparte sich jede weitere Bemerkung.
»Du solltest dich schämen«, zischte seine Frau.
Neundorf wartete, bis sich die Situation etwas entspannt hatte, setzte sich dann zu Annika Jung an den Tisch. Sie barg die immer noch leicht zitternde Rechte der jungen Frau in ihrer Hand, versuchte, ihr mit dieser Geste Kraft zu vermitteln. »Ich weiß nicht, ob Sie es sich schon zutrauen«, sagte sie, bewusst langsam sprechend und in bedächtigem Ton, »aber es würde uns unendlich weiterhelfen. Sie haben gestern Mittag erwähnt …« Sie verzichtete darauf, ihren Satz zu vervollständigen, sah, wie die junge
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