Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer
dem Silcher-Denkmal sind die zwei sich nämlich vor a paar Jahr über de Weg glaufe.«
Bis der Zug die Universitätsstadt erreicht hatte, sah sich der Kommissar in die Grundlagen der familiären Verhältnisse seiner Gesprächspartner eingeweiht, er wusste darüber Bescheid, dass es zwei der mittlerweile schon über fünfzig Jahre alten Söhne zu tüchtigen Beamten im Finanzamt beziehungsweise der Verwaltung Stuttgarts und Esslingens gebracht hatten und der dritte mit großem Erfolg eine Bäckerei in der Umgebung Ludwigsburgs betrieb; eine der Töchter war mit einem Wengerter in Hessigheim verheiratet und hatte selbst schon vier Kinder, die andere arbeitete wie ihr Mann und ihr bereits zweiundzwanzig Jahre alter Sohn beim Bosch in Feuerbach.
»Und d’Mutter hat mit achtundsiebzig endlich Ja zu ihrem neue Glück gsagt.«
Der neue Lebenspartner war vierzehn Monate jünger, seit mehreren Jahren geschieden und bis zu seiner Verrentung in der Technik des Reutlinger Generalanzeigers tätig gewesen.
»Und eines Tages sieht der Kerle unser Mutter uf der Neckarinsel uf oiner Bank sitze und hockt sich zu ihr na, weil ihm die Schuhbendel ufgange sind und er die wieder zammebinde wollt. Und so kommet die zwoi in a Gspräch und jetzt sind se scho a Jahr verheiratet.«
Als Braig in Hechingen aus dem Zug stieg, war er immer noch von der heiteren Atmosphäre der vergangenen Stunde beseelt. Mochte der im Sekt oder der Kirschwasser getränkten Torte enthaltene Alkohol daran verantwortlich sein oder nicht, er schwebte leichtfüßig über den Bahnsteig direkt auf den uniformierten Kollegen zu, reichte ihm die Hand und stellte sich vor. Die Bahnfahrt war aufgelockert durch die nette Unterhaltung wie in Windeseile verlaufen, er hatte Mühe, sich jetzt auf die Umstände des Geschehens auf der Geigelfinger Steige zu konzentrieren.
»Michael Geuckler. Ich soll Sie abholen.«
Er folgte dem Beamten zum Fahrzeug, erhaschte einen Blick auf die hoch über der Stadt scheinbar halb im Himmel schwebende Burg Hohenzollern mit ihren Türmen und Festungsmauern, jedes Mal aufs Neue ein faszinierender Moment, wenn er in der Gegend unterwegs war.
»Wie im Märchen, was?«, meinte Geuckler, auf Braigs Blick anspielend. »Eine Kulisse wie geschaffen für Hollywood. Leider etwas zu weit weg von den Amis. Sonst wären die ständig hier am Drehen. Eine Seifenoper nach der anderen.« Er sprach in einem ungewohnten, Braig unbekannten Dialekt, formulierte jedes Mal »eene« statt »eine«, artikulierte das »A« fast wie ein »O«.
»Habt ihr nicht genug Touristen?«
Der Mann startete den Wagen, fuhr los. »Mir reicht es. Ich war bis jetzt nur ein Mal oben, vor drei Wochen ungefähr, an einem Samstag. Halb Europa war unterwegs.«
»Sie sind neu hier?«
»Meine Aussprache verrät mich, was?«
Braig nickte.
»Seit Januar, ja. Der Liebe wegen. Aus Erfurt. Meine neue Freundin lebt in Reutlingen.«
»Dann sind Ihnen die Verhältnisse in Geigelfingen nicht bekannt.«
»Nein«, antwortete Geuckler. »Tut mir leid. Dazu kann ich Ihnen nichts sagen. Ich weiß nur, dass der Besitzer einer Maultaschenfabrik heute Nacht von der Straße abgedrängt worden sein soll. Nicht weit vor der obersten Serpentine, direkt über einem steilen Hang. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie seine Überreste aus dem Wrack herausgeschweißt hatten. Soweit ich informiert bin, haben sie ihn erst vor ein paar Minuten abtransportiert. Ich habe die Stelle vorhin selbst gesehen. Es war gar nicht einfach, an das völlig demolierte Fahrzeug heranzukommen. Ich beneide die Kollegen nicht, die damit beauftragt waren. Die Felswände stehen dort oberhalb und unterhalb fast senkrecht.«
Braig benötigte keine genauere Beschreibung des Steilanstiegs der Alb, er kannte ihn zur Genüge von vielen privaten, aber auch beruflichen Besuchen. Die Schwäbische Alb ragte auf einer Länge von etwa zweihundert Kilometern vom Schweizer Jura im Südwesten bis zur Frankenalb im Nordosten mit einer steilen, bis zu vierhundert Meter hohen Kante aus dem Vorland. Dieser weithin sichtbare, von Poeten und Naturliebhabern seit Langem als »blaue Mauer« besungene »Albtrauf« bestand den Erkenntnissen der Geologie nach aus besonders widerstandsfähigen Gesteinsschichten des sogenannten braunen und weißen Jura, die sich am Grund eines Meeres vor etwa 170 Millionen Jahren gebildet hatten.
Um die gewaltigen Höhenunterschiede zwischen dem Albvorland und seiner Hochfläche zu überwinden, waren seit Jahrhunderten
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