Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer
war nicht gewichen: Nicht, weil sie fürchtete, auf einen plumpen Dumme-Jungen-Streich hereinzufallen, sondern eher, was die Aussagekraft des Phantombildes anbelangte. Dass die beiden Informanten ihrem Lehrer übel mitspielen oder sich wenigstens von einer oder zwei lästigen Unterrichtsstunden an diesem Mittag befreien wollten, schien ihr weniger wahrscheinlich; weit größer aber war ihre Befürchtung, dass der Mann einer Verwechslung zum Opfer fiel, die auf dem Unbekannten in der Zeitung ähnlichen Gesichtszügen beruhte. Die große, dunkle Jacke, die Diebele beobachtet und an die sich die beiden jungen Männer erinnert haben wollten, konnte wohl kaum als ernsthaftes Indiz dafür herhalten, dass Silcher tatsächlich mit dem Gesuchten identisch war: Welche Person in diesem Land hatte nicht eine große, dunkle Jacke für kalte oder nasse Tage im Schrank hängen?
Ohne große Hoffnung, in der Angelegenheit wirklich Fortschritte zu erzielen, hatte sie die Kantine aufgesucht, eine Portion Spaghetti Bolognese und einen kleinen Salat bestellt, war dann nach einer im Büro getrunkenen Tasse Kaffee nach Ludwigsburg gefahren. Sie kannte die Lage des Gymnasiums; mehrere Schulen in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs. Sie hatte nicht lange suchen müssen, bis sie den Eingang fand. Kurz vor dreizehn Uhr hatte sie vor dem beschriebenen Raum Stellung bezogen, das Läuten der Pausenglocke, einen vornehmen melodischen Gong, abgewartet, dann, nachdem mehrere etwa achtzehn Jahre junge Frauen und Männer durch die geöffnete Tür nach außen gekommen waren, das Unterrichtszimmer betreten.
Die Einrichtung erinnerte an ein naturwissenschaftliches Labor, mehrere Leitungen und dünne Rohre in verschiedenen Farben auf den jeweiligen Arbeitstischen endend, mit Hähnen und rot leuchtenden Knöpfen individuell zu bedienen. Computermonitore auf jeder Arbeitsplatte, an der Decke ein Beamer, verschiedene Apparaturen vorne auf dem Lehrerpult. Der Raum hatte nicht mehr viel gemein mit dem, was sie aus ihrer Schulzeit kannte, lediglich das große Wasserbecken an der Seite, die Tafel an der Stirnwand sowie das dem menschlichen Körper nachgeahmte Kunststoff-Skelett gehörten damals schon zum Inventar eines Biologie-Raums. Vertraut schien ihr auch der leichte Formalingeruch, den die leise surrende Klimaanlage nicht aus der Luft zu verbannen schaffte.
Sie sah die verwunderten Gesichter einiger junger Frauen, die ihre Taschen und Rucksäcke packten, bemerkte das verlegene Grinsen zweier junger Männer, die ihr Auftauchen interessiert zu verfolgen schienen. Die beiden Informanten?
Neundorf bemerkte, dass die einzige etwas ältere, mit einem weißen Kittel bekleidete Person gerade auf eine Tür auf der anderen Seite des Raums zusteuerte, verschwendete keine Zeit, sich um die jungen Leute zu kümmern. Sie beeilte sich, lief dem Mann, der eine dickbauchige, mit einer Flüssigkeit gefüllte Flasche in den Händen hielt, hinterher, sprach ihn an. »Herr Silcher?«
Die Person blieb stehen, drehte sich zur Seite, warf ihr einen überraschten Blick zu.
Eine Ähnlichkeit mit dem Phantombild war in der Tat vorhanden. Neundorf starrte dem Mann ins Gesicht, musterte ihn gründlich. Ein breitschultriger, kräftiger Mann Mitte vierzig mit einer auffallend großen Nase, etwa so, wie Diebele den von ihm beobachteten Unbekannten beschrieben hatte. Ihre Skepsis, den Anruf der beiden Schüler betreffend, schwand deutlich.
»Ja?« Silcher betrachtete sie mit kritischem, leicht genervt wirkendem Blick. Ich habe genug von der Schule, dem Geschrei und dem Generve, schien er zu denken, ich will nach Hause.
»Wir müssen miteinander sprechen«, erklärte sie.
»Wer sind Sie?«
Sie schaute sich um, sah, dass sich immer noch ein paar Schülerinnen und die beiden Schüler im Raum befanden, zögerte. »Unter vier Augen.«
»Unter vier Augen?« Der Blick des Mannes verdüsterte sich augenblicklich. »Es geht um eine Note«, sagte er dann.
Neundorf schüttelte den Kopf. »Nein«, erwiderte sie. »Es hat nichts mit der Schule zu tun.«
»Wie bitte?« Er hatte keine Lust oder keine Zeit, sich auf sie einzulassen, soviel war deutlich zu erkennen, hielt die dickbauchige Flasche abwehrend vor sich hin.
Sie griff nach ihrem Ausweis, streckte ihn ihm vors Gesicht.
Silchers Augen wanderten zu ihrer Kennkarte, blieben verwundert dort haften. Er runzelte die Stirn, musterte sein Gegenüber. »Frau Neundorf. Sie wollen wirklich zu mir?«
»Unter vier Augen«, wiederholte
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