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Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer

Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer

Titel: Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Wanninger
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Vergnügen verspeist. Nicht ein einziger Vorgesetzter habe von dieser ruchlosen Tat Kenntnis erhalten, weshalb die Maulbronner Nudeltaschen bis auf den heutigen Tag im Volksmund auch »Herrgottsbscheisserle« genannt werden.
    Nicht alle schenken dieser Legende Glauben. Viele Historiker sprechen der Überlieferung größere Authentizität zu, die die Herkunft der Maultaschen in den Zusammenhang mit der Ansiedlung protestantischer Glaubensflüchtlinge aus Frankreich und Italien in der Nähe Maulbronns Ende des 17. Jahrhunderts verweist. Die Anhänger des schon fünfhundert Jahre früher tätigen Wanderpredigers Petrus Valdes, die nur Gott und die Bibel als Autorität akzeptierten, waren in ihren Heimatländern auf Anordnung der Päpste zu Tausenden ermordet worden. Erst in den evangelischen Ländern des Herzogtums Württemberg und der benachbarten Markgrafschaft Baden-Durlach wurde den Waldensern Aufnahme gewährt. Innerhalb kürzester Zeit verwandelten sie die württembergisch-badische Grenzregion um Maulbronn in eine wirtschaftlich prosperierende Region. Ortsnamen wie Kleinvillars, Pinache und Perouse künden heute noch von der Herkunft ihrer Gründer.
    Die Waldenser bauten nicht nur als Erste in Süddeutschland die Kartoffel an, ihre aus Italien geflohenen Glaubensschwestern und -brüder brachten auch die Kenntnis der Herstellung besonderer Teigwaren wie Ravioli und Tortellini mit. Der durch die intensiven Niederschläge und die fruchtbaren Böden ihrer neuen Heimat außergewöhnlich gut wachsende Spinat soll sie auf die Idee einer weiteren Teigtaschenfüllung gebracht haben, womit dieser Überlieferung nach die Maultasche erfunden worden war.
    Auf welchem Weg auch immer dieses Nahrungsmittel Zugang in den deutschen Südwesten fand, die Schwaben bemächtigten sich seiner alsbald in allen seinen Variationen und erhoben es innerhalb kurzer Zeit zu ihrer »Nationalspeise«. Weil sie mit feinfühligem Gespür erkannt hatten, dass die Maultasche den innersten Kern des schwäbischen Charakters repräsentiert wie nichts anderes auf der Welt? Nach Außen hin unscheinbar, einfach, bescheiden, ein heller Klumpen ohne jede Zier – der krasse Gegensatz zu all den Wunderwerken aus exotischen Pflanzensprösslingen und im letzten Winkel des Erdballs aufgespürtem, frisch gebratenem Getier, die die Teller der Nachbarn schmücken.
    Kenner jedoch wissen: Hinter einer einfachen Schale verbirgt sich ein umso schmackhafterer Kern. Und so ist jede Maultasche genau wie jeder Schwabe trotz des Verzichts, mit optischen Tricks zu punkten, für eine besondere Überraschung gut: Die Füllung macht’s, nicht das unscheinbare Äußere – beim Essen wie beim Menschen. Immer neue Kombinationen von Fleisch, Wurst und dem verschiedensten Grünzeug wurden und werden in schwäbischen Küchen ausgetüftelt, um den Geschmack noch weiter zu verbessern oder ihm neue, bisher unbekannte Komponenten zu verleihen.
    Und genau in diesen vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten gründet die zweite wichtige Eigenschaft, die die Maultasche derart zur Verkörperung des schwäbischen Charakters werden lässt, dass man eigentlich darauf schwören müsste, sie sei im Ländle erfunden worden: Sie repräsentiert mit ihrem bescheidenen Auftreten nicht nur das schon fast sprichwörtliche schwäbische Understatement, sie ermöglicht es auch, die diesem Menschenschlag zugeschriebene Sparsamkeit im Alltag zu praktizieren. Bleiben nämlich vom Festessen am Sonntag Fleisch und Gemüse übrig, wurde auf die extra für die Wochenend-Besucher gekauften Weckle und süßen Stückle viel zu wenig zurückgegriffen, so eröffnet sich dem schwäbischen Küchenchef oder seinem weiblichen Pendant daraus ein abwechslungsreiches, fast kostenloses Wochenprogramm: Alle Essensreste werden zerkleinert und in Maultaschen-Füllung verwandelt. Montags gibt es die Maultaschen in der Brühe, am Dienstag werden dieselben zur Abwechslung in der Pfanne mit Zwiebeln gebraten und am Mittwoch, wieder eine neue Mahlzeit, in Streifen zerschnitten und geröstet zusammen mit schwäbischem Kartoffelsalat kredenzt.
    * * *
    Steffen Braig, von Maria Sälzle in deren Büro unmittelbar nach seiner Ankunft in Geigelfingen zu einem Kaffee eingeladen, hatte die Gelegenheit genutzt, die offenkundig von der Trauer um ihren verstorbenen Chef geprägte Frau erzählen zu lassen. Er war am frühen Donnerstagmorgen gemeinsam mit Neundorf Richtung Schwäbische Alb gestartet, sie, um sich im Reutlinger Seniorenheim nach

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