Brainspam: Aufzeichnungen aus dem Königreich der Idiotie
– gaben der berühmten stillen Nacht erst ein Gesicht. Alles und
jedes war gut und schön; es duftete nach Ente, Peter Alexander kumpelte eine
Melodie – und dann klingelte es.
18.33 Uhr
Erwin trug einen sperrigen Karton, und als er ihn absetzte,
sahen wir seinen Smoking: Grün irisierend, die Hose braun gepaspelt und mit
grüner Samtfliege am fleischigen Hals sah er aus wie die Manga-Version einer
überlebensgroßen Scheißhausfliege.
»Na, ihr Verbrecher«, tätschelte er uns nacheinander die
Schultern, »frohe Weihnacht.«
»Wir essen erst«, hauchte meine Mutter mit Blick auf den
mitgebrachten Karton, aber Erwin ignorierte sie.
»Na, Kinder«, schnarrte er, »was hab ich hier drinne?«
»Wir sollten erst essen, Onkel. Das erhöht die Spannung«,
kam ich meiner Mutter zu Hilfe.
»Husarenkacke«, fügte er dem Wortschatz meiner Nichten
hinzu, »das kann nicht warten. Schließlich ist Weihnacht.«
Er packte aus.
Die Krippe – ein Sperrholzspukhaus ohne Türen – wuchtete er
auf den Wohnzimmertisch.
Dann befreite er die Figuren aus dem Einwickelpapier. Das
Jesuskind hatte er aufgrund seiner Fragilität in Toilettenpapier gewickelt, und
ich hörte die katholische Kirche im Geiste aufjaulen.
Die Krippenfiguren hatte er selbst gebastelt; ob er sie
geschnitzt, aus Salzteig gebacken oder aus dem Rückenmark Obdachloser geknetet
hatte, war nicht mehr zu erkennen; er hatte sie mit Plakafarbe bemalt, und
speziell die drei Heiligen aus dem Morgenland wirkten eher wie völlig
entstellte Tunten.
Josef hingegen war ihm etwas zu muskulös geraten: Winzige
Beine, aber ein mächtiger Oberkörper, der von einem rattengesichtigen Kopf
gekrönt wurde.
Die Tiere glichen beunruhigend den Monsterhunden aus
»Resident Evil«, nur das sie einheitlich lila waren.
Über Maria möchte ich nicht schreiben, sonst ist es aus mit
der These der unbefleckten Empfängnis.
19.00 Uhr
Das Spiel begann. Erwin arrangierte die Figuren. Die
heiligen drei Könige drapierte er auf einem entlegenen Regal neben der
Erstausgabe von »Das Tal der Puppen«, und zwar mit der Begründung, »die wären
schließlich superlange unterwegs gewesen.«
Ich hatte schon zu diesem Zeitpunkt Zweifel, ob die Kinder
dem Schauspiel würden folgen können, aber Erwin arbeitete die Geschichte der
Geburt Christi kindgerecht ab.
Er hockte vor dem Spukhaus und begann die Figuren hektisch
hin und her zu bewegen.
»So ging das ab, liebe Kinder«, begann er.
»Josef, Josef, mir ist langweilig«, schwenkte er Maria, und
Josef antwortete verhalten schnarrend: »Jou, Maria. Mir auch. Gut, dass wir das
Kind haben. Aber wir brauchen ’ne Hucke zum Übernachten, sonst ist Essig mit Pennen.«
Er hampelte mit den Figuren herum; ich glaube, er wollte die
Suche Marias und Josefs nach einem Hotel darstellen, aber es wirkte wie eine
Kampfsequenz aus Matrix.
»Josef! Hier! Ein Hotel!«
»Verpisst euch«, spielte Erwin den gesichtslosen Hotelier,
und mein Bruder stöhnte leise auf.
»Hier, Maria, noch eins.«
»Zieht Leine, ihr Penner.«
»Dann«, bellte Erwin, »fanden sie eine Krippe. Das ist so
eine Art Unterstand für Schafe und so. Eigentlich nur ein Platz zum Hinscheißen
…«
»ERWIN!«, brüllte mein Bruder.
»Ja, ja«, murmelte Erwin. »Sie latschten also in den Stall
und machten es sich gemütlich, obwohl der Gestank von Rindersch…, also der
Geruch recht streng war.«
Der Backofen machte uns durch ein vernehmliches PLING!
bewusst, dass wir noch eine gut gebräunte Leiche im Keller hatten, aber Erwin
kam gerade erst in Fahrt.
»Josef legt den kleinen Sch… das Christuskind in eine
Futterkrippe, mörderunbequem, war aber nichts anderes da. Der Erlöser hatte das
nicht so gut wie ihr Blagen.« Er kniff ein Auge zusammen.
»Plötzlich kreuzen diese drei Typen auf. Einer komischer als
der andere, und alle reden geschwollenen Stuss, und das machte Josef
skeptisch.«
Erwin griff sich die drei Heiligen aus dem Regal und ließ
sie einen Sturzflug zur Krippe unternehmen.
»Hallo Josef, tach Maria. Euch ist der Heiland geboren.
Fragen?«
Mein Bruder hielt es nicht mehr aus; er sah jeden
pädagogischen Ansatz den Bach runtergehen, und meine Mutter hatte den gleichen
Verdacht betreffs einer Ente.
»Fortsetzung folgt«, rief meine Oma in eine Pause Erwins und
schälte sich aus ihrem Mantel.
Erwin protestierte wortreich, aber meine Mutter hatte den
Vogel bereits auf einem großen Teller ins Wohnzimmer getragen.
»Wir müssen ja Gott sei Dank keine
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