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Brainspam: Aufzeichnungen aus dem Königreich der Idiotie

Brainspam: Aufzeichnungen aus dem Königreich der Idiotie

Titel: Brainspam: Aufzeichnungen aus dem Königreich der Idiotie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Sträter
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schwarze
Jeans und einen schwarzen Rolli. Eine geschickte Wahl.
    Im Rollkragenpullover könnte ich solidarisch mit meiner
extrem solventen Oma schwitzen.
    Außerdem war es ganz recht, wenn Erwin darüber herzog; das
hielt ihn von anderen Dingen ab. Erwin hasst Schwarz. »Ist einer von uns abgekratzt?
Omma ölt noch. Also warum trägst du eine solche Scheißfarbe, Kollege?«, gehört
eigentlich zum heiligabendlichen Standard.
    Sollte er doch erzählen, was er wollte, solange er nicht
wieder abdriftete.
    Erwin wurde nämlich leicht sentimental an Weihnachten. Vor
allem, wenn er Bowle getrunken hatte.
    Das war stets unheimlich: Erst plauderte er über das Wetter
– (»Es ist so kalt am Borsigplatz, da friert mir der Sack ab, meine Lieben«),
Polenwerner (»Seit die Gretel tot ist, geht der nicht mal mehr in’ Puff!«) und
das Fernsehprogramm (»Dreckspolitiker; kannst du alle in’ Sack stecken und mit
dem Knüppel drauf dreschen. Und den Jauch auch!«) – dann plötzlich repetierte
sein Hirn Erlebnisse aus seiner Jugend, und er wurde weinerlich.
    Erwin: »Kerl, was ist das lecker Kuchen.«
    Oma, schweißüberströmt: »Schmeckt er dir?«
    Erwin: »Ja. Besser als das, was mir als Kind serviert wurde.
Mein Vatter hat keinen Kuchen gebacken – Weltkrieg, kein Mehl – der hat ’ne
Gans geschlachtet! Aber nicht unsere, die vom Nachbarn! Wir konnten uns nicht
mal eine Gans leisten, könnt ihr euch das vorstellen? Vatter hat die am
Weihnachtsabend mit den Schnürsenkeln seiner Stiefel stranguliert, damit sie
schön zart wird, und wir Kinder durften zusehen. DAS war unsere Bescherung!
Abends gab es die dann roh, oder MEINT IHR WIR HATTEN KOHLEN UM DEN OFEN ZU
HEIZEN? WAS? Dann haben wir im Treppenhaus das kalte Tier runter geschlungen,
während uns das Gänseblut in die Papierschuhe lief, und waren froh drüber! Wir
hatten nix zu trinken außer Wasser! Wenn Vatter Geburtstag hatte, hat er selbst
Limonade gemacht, indem er ein Eukalyptusbonbon unter den Wasserhahn gebunden
hat, das reichte dann für drei Pinnchen!
    Dann wolltest du gerade ansetzen, dann kamen Kampfflieger
und haben dir die Hütte UNTER’M ARSCH WEGGEBOMBT, KOLLEGE! Da standest du dann
da: Alles brennt und du mit deinem leeren Glas, alles verschüttet, und Vatter
hat aus Kostengründen ohnehin nur alle fünf Jahre Geburtstag gefeiert!
    Wenn wir als Achtjährige nicht noch die Russen aus dem
Treppenhaus verjagen mussten! MIT WÄSCHEKLAMMERN, FREUNDE! JA-HA! Ein
waffenstarrender Ivan, Kannibale und völlig ortsunkundig, und du klemmst ihm
’ne Klammer an die Nase und hoffst, dass du den nächsten Tag erlebst! So war
das! So!«
    Oma: »Dann nimm dir noch ’n Stück.«
     
    Vielleicht versuchte ich durch meine Kleidung auch nur, mit
dem Halbdunkel zu verschmelzen.
    Unsere Familie pflegt nämlich zwei Traditionen: Die eine
ist, echte Kerzen auf den Christbaum zu packen, weil es »festlicher« ist.
    Die andere ist unsere Neigung, unachtsam ganze Straßenzüge
einzuäschern, wenn einer von uns mal wieder mit gespielter Freude über Bücher
wie »Hanni und Nanni jagen Johnny Rotten«  in den Weihnachtsbaum stürzt.
    Wir haben ab Sechsundneunzig davon Abstand genommen, weil
die Nachbarn sich über Glühwein trinkende Feuerwehrmänner aufregten, die sich
unter den Balkonen alarmbereit hielten.
     
    16.00 Uhr
    Oma rief an und bat mich, sie abzuholen.
    Ich sah schon aus einigen hundert Metern Entfernung den
unförmigen Schatten einer haarigen Gestalt, auf deren Haupt noch einzelne
Wickler thronten; der Bordstein war eisglatt, und durch ihr ruckartiges
Ausbalancieren mussten vorbeifahrende Fremde beim Anblick meiner Oma denken,
sie sähen einen Werwolf in der letzten Phase der Metamorphose.
    »Frohes Fest«, sagte sie und riss mein Handschuhfach auf.
    Dann lächelte sie.
     
    18.00 Uhr
    Mein Bruder – völlig normal gekleidet, Kinder im Schlepptau,
keine sichtbaren Tätowierungen – erschien.
    Mit leeren Händen.
    Sehr gut.
    Das Wohnzimmer meiner Mutter strahlte festlich, wurde aber
durch ihre Bluse – ein verchromtes Einzelstück mit einer Milliarde
eingearbeiteter Glühbirnchen, die »Frohes Fest« zu pulsen schienen – nach
Punkten geschlagen.
    Oma hinterließ Abdrücke von Lippenstift auf unseren
Gesichtern, mein Bruder sah meine leeren Hände, lächelte dann und sagte etwas
wie »Frohe Weihnachten«.
    Die Kinder – von meinem Bruder offenbar kurz vor Erscheinen
über die Vorzüge kompromissloser Elektroschocktherapie im Falle des Ungehorsams
aufgeklärt

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