Brainspam: Aufzeichnungen aus dem Königreich der Idiotie
worden; nur ein einzelner Sack hing noch an
seinem Haken und eine feiste 24 schmückte seine Front.
Heiligabend.
Ich schaffte mich und einen weiteren, unnummerierten Sack in
den Raum mit den Badezimmermatten und dachte nach, während ein hohles
Plätschern beinahe meditative Stimmung verbreitete.
08.30 Uhr
Ich zog mich an und fuhr zur Tankstelle; auf dem Weg dorthin
lallte mir Dean Martin mit seinem Lied von Rudolph, dem rotnasigen Rentier, die
Hucke voll, und als ich das Gelände der ARAL befuhr, schloss Mr. Martin seinen
Vortrag und gab das Wort an Slade weiter, die hemdsärmelig anknüpften.
Mein Atem wurde zu einem Nebelgespenst, das nach Lucky
Strikes roch, während ich ohne jedes Vorspiel den Stutzen in die Öffnung meines
Tanks senkte.
Im Innern der Tanke hatte man bereits im Oktober eine
Großoffensive zum Fest gestartet:
Alles – inklusive Chappi mit Pansen – ruhte auf geschmückten
Regalen, und riesige Vorräte von Dominosteinen – ausreichend, um die Berliner
Mauer wieder hochzuziehen – waren an allen strategischen Punkten des Ladens
verteilt. Der Inhaber dachte wohl, wenn man oft genug gegen eine der Paletten
rempelte, würde man entnervt aufgeben und zugreifen.
Ich umschiffte das Gebäck geschickt, griff mir aber einen
Barren Marzipan, obwohl ich ziemlich sicher bin, dass diese in Goldfolie
eingewickelten Klumpen seltsame biochemische Prozesse auslösen: Ich pflege die
Theorie, dass der Verzehr dieses Zeugs einen Botenstoff (Botenstoff, welch ein
Wort. Früher dachte ich immer, das wäre Kokain, das ins Haus geliefert wird) im
Hirn freisetzt, der dafür sorgt, dass man in exakt zwölfmonatigen Intervallen
Heißhunger auf etwas bekommt, das wie ein Fiebertraum von Weihnachten in einem
Schlaraffenland für Idioten schmeckt; von Januar bis Oktober würde niemals
jemand, der sich nicht die Haare lila färbt und an Kaffeefahrten teilnimmt,
Marzipan essen. Im Dezember schlingen Hinz und Kunz es runter. Merkwürdig, vor
allem, weil Marzipan im Ranking der bequem zu verdauenden Substanzen noch vier
Plätze hinter Beton rangiert.
Der Kassierer betrieb entweder Tai-Chi oder hatte gerade in
der Waschstraße gekifft; jedenfalls lief seine unerbittliche Zeitlupenstudie
eines Studenten meiner schrulligen Performance entgegen, als ich versuchte,
meinen linken Arm davon abzuhalten, in der neuen Coupé zu blättern.
Ich erstand eine Weihnachtschachtel Luckys, entbot ein
frohes Fest und erhielt als Antwort ein Sammelsurium gemurmelter Worte ohne
Sinn.
Zurück am Fahrzeug schaffte ich es, Whams »Last
Christmas« mit dem Dröhnen des Münzstaubsaugers zu übertönen. Ein kleiner
Teilsieg; wenn ich bis zum Abend weitere 356 Ausstrahlungen dieses Songs
überstanden hätte, wäre ich fein raus.
Meine Oma ist ziemlich penibel, was Autos angeht; ich höre
noch heute ihr Kreischen, als sie im Handschuhfach unter den gesammelten Capri-Sonne-Tüten
(ich hefte sie ab; wenn jemals Pfand darauf erhoben wird, löse ich sie ein und
kaufe mir umgehend einen Steinway-Flügel) etwas fand, dass sie für ein totes
Frettchen hielt, aber nur der vermisste Hamster meiner Nichte war.
11.00 Uhr
Meine Familie und ich haben leicht voneinander abweichende
Vorstellungen, was festliche Kleidung angeht. Meine Mutter bevorzugt pluderige
Ensembles mit Strass, Glitter und wenn’s geht auch Halogen, meine Oma ihren
Pelzmantel (sie hat ihn solange ich denken kann; ich vermute, es handelt sich
um Säbelzahntiger), den sie in gut beheizter Stube erst dann ablegt, wenn sie
ohne Kreislauftropfen nicht mehr sprechen kann.
Onkel Erwin ist nicht einzuschätzen: Seit seiner Vorstellung
von zweiundneunzig, als er sich als Knecht Ruprecht verkleidete – viel Frottee,
schwarzer Kajal, ein Plastikvampirgebiss – weil er der Auffassung war, »wir
Kinder« wären nicht lieb gewesen, hat niemand mehr einen Gedanken an das
Heiligabendoutfit von Erwin verschwendet. Das wäre auch sinnlos: Von kariertem
Anzug mit Knickerbockern und Rüschenhemd bis zu seinem dunkelgrünen
Festtagssmoking (Beetlejuice! Beetlejuice! Beetlejuice!) ist alles drin.
Wir wussten nur, dass er seine pelzverbrämten Stiefeletten
tragen würde, die »noch gut sind«, obwohl er sie kaufte, als Sean Connery noch
Bond war.
Kurz: Meine Familie kleidete sich wie eine
Schaustellerfamilie in einer Pinocchio-Verfilmung von Roger Corman.
Da ich nicht erwartete, die wütende Stimme meines Schöpfers
zu vernehmen, die meinen Kleidungsstil kritisierte, wählte ich eine
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