Bran
er aus der Stadt in die Wohnung im Ministeriumsgebäude zurückkam, die man ihm für die Dauer seines Aufenthaltes zur Verfügung gestellt hatte, empfand er sie noch stärker als sicheren Hafen.
»Was ist daran merkwürdig?«
»Die einzige Bekannte, die ich in einer Stadt von 800 Millionen habe, und fünf Minuten bevor ich sie besuchen will, kommt sie ums Leben!«
»Das kleine Hürchen? Hat es dich sehr getroffen?« Cejla sah nicht von ihrem Tattoo auf, wo sie wieder holografische Symbole hin und her schob.
»Sei still. Das ist menschenverachtend.«
»Es ist mir egal, was du darüber denkst, aber so etwas kommt hier alle paar Tage vor.«
»Umso schlimmer!«
Cejla drehte den Kohlefaserstick in den Fingern, als denke sie über etwas nach. Aber dann tippte sie nur ein weiteres rotes Dreieck an, das daraufhin zu einem grünen Kreis wurde. War es ein Geduldsspiel, mit dem sie sich die Zeit vertrieb, oder gehörte es zu ihrer Arbeit?
»Du solltest dir deswegen keine Gedanken machen. Auch wenn es mir um deine Freundin natürlich leidtut.«
»Es waren hundert Tote.«
»Jede Nacht werden in dieser Stadt zehntausend Kinder geboren.«
»Das ist blanker Zynismus.«
»Es ist die Realität.«
»So wird auch wieder Wohnraum frei!« Straner sah sie verzweifelt an.
»Was willst du?« Jetzt schaltete sie endlich das Holodisplay ab und ließ den Stick in ihrem schwarzen Haar verschwinden. »Die Technik ist nun einmal marode.«
»Die Technik ist hervorragend. Sie muss nur gewartet werden!«
»Sie ist zu kompliziert«, erwiderte Cejla ungerührt. »Wir brauchen Sachen, die ohne ständige Reparaturen funktionieren.«
Straner schüttelte den Kopf.
»Lasst endlich freien Handel zu, und unsere Firmen werden euch mit Wartungsverträgen überfluten!«
Ihre Miene blieb ausdruckslos und kühl. »Kein Mensch in diesen Silos kann sich so etwas leisten.«
Er seufzte. Seine Hände gestikulierten selbsttätig vor sich hin und fielen dann resigniert in seinen Schoß. »Ist ein Menschenleben hier denn gar nichts wert?«
»Es ist so viel wert, wie man dafür bezahlen kann.« Cejla erhob sich. »Hast du sonst noch etwas herausgefunden?«
Er nahm seine Nachforschungen auf eigene Faust wieder auf. Es war die Stunde der Abenddämmerung, wenn sich Erträglichkeit über die Stadt legte wie ein linderndes Tuch über eine schwärende Wunde. Die Sohlen der Straßenschluchten sanken in mittelalterliches Dunkel. Die Spitzen und Zinnen der kilometerhohen Wohntürme ragten wie Fackeln in den schräg stehenden Sonnenuntergang hinein, zinkoxidfarbene Brände und geometrisch exakte Scheite, die stumm vor dem Abendhimmel ausharrten. Das Firmament durchlief sehr rasch das ganze Spektrum vom staubigen Gelb des Nachmittags zum unfassbar tiefen, glosenden Schwarz der Nacht. Der Verkehr lebte noch einmal auf. Die Menschen bewegten sich freier, als seien ihnen hemmende Fesseln abgenommen. Auch sein Atem ging wieder etwas leichter, nachdem er den ganzen Tag in einer klaustrophobischen Bedrückung zugebracht hatte.
Straner begab sich ins Trabeenerviertel. Hier war ihm das Volk nicht ganz so dumpf vorgekommen wie bei den Kirgolern, den Azralern oder den arroganten Exilanten aus Panesh. Und in die Wohngebiete der Serafidin konnte er sich nicht trauen. Dort hätte man ihn sofort als Fremdweltler erkannt.
Nach einer Fahrt mit der Untergrundbahn, zusammengequetscht mit zahllosen Pendlern, die Kleider imprägniert von dem Schweiß, den sie ausdünsteten, und dem Atem, den sie gebaren, hatte er die Aura eines Vorstadtmenschen angenommen. Seine Haut war inzwischen dunkel, sein Gang schleppend. Er hatte es verstanden, den Dialekt der Zhidaer nachzuahmen. Niemand würde ihn für einen Angehörigen seines eigenen Stammes halten. Aber er sollte als Einwohner dieser Stadt durchgehen, die mehr Seelen barg als ein Menschenleben Herzschläge.
Auf einem der lokalen Märkte, die um diese Stunde öffneten, mischte er sich unter das Volk. Es kam hier zusammen, um Fleisch und Gemüse zu tauschen, über deren Herkunft er nur spekulieren konnte. Das wichtigste Gut waren jedoch Informationen. Verwertbare wie die, wo es Ersatzteile gab und wer einen vertrauenswürdigen Arzt kannte, und unverwertbare wie der neueste Klatsch über das Herrscherhaus. Straner musste sich sagen, dass die meisten Menschen hier vom Netz der öffentlichen Medien abgeschnitten waren. Es gab eine Empfangsstation pro Block. Das Wesentliche machte durch Hörensagen die Runde. Und doch waren die Leute
Weitere Kostenlose Bücher