Brandbücher - Kriminalroman
dem Katharina in den letzten Jahren gelebt hatte. Das kleine Haus, das sie vor einigen Jahren gekauft hatte, stand leer; es wartete darauf, abgerissen zu werden, damit ein neues, modernes Gebäude in der Innenstadt errichtet werden konnte. Stand es wirklich leer?
Wie elektrisiert sprang Karina aus dem Bett. Das musste sie sofort nachprüfen. Ohne sich mit Duschen und Haare waschen aufzuhalten, sprang sie in ihre Jeans. Sie zerrte ein T-Shirt aus dem Koffer und zog es über den Kopf. Ihre dunklen Haare schob sie mit einem Haarreif nach hinten.
Während sie mechanisch die Zahnbürste im Mund hin- und herschob, grübelte sie, wo der Schlüssel für das Häuschen sein konnte. Als sie sich die Zahnpasta mit einem großen Schluck Wasser aus dem Mund spülte, fiel ihr das Schlüsselbrett ein, an dem zurzeit ihrer Großeltern immer die Fahrradschlüssel hingen.
Auf dem Weg zum Schlüsselbrett wischte sie sich den restlichen Zahnpastaschaum von den Lippen. Über die Ohrstecker, die sie sonst sorgfältig auswählte, machte sie sich heute keine Gedanken. Im Gehen band sie das Nickituch um, das die Narbe an ihrem Hals von der Schilddrüsenoperation verdeckte.
»Mein Markenzeichen«, pflegte Karina das Tuch zu erklären, das nicht zu ihrer sonst eher sportlichen Kleidung passte. »Das ist halt meine Krawatte«, grinste Karina gelegentlich, wenn die Nachfragen zu dreist wurden. Doch hier in dem Haus ihrer verstorbenen Großeltern und ihrer verstorbenen Großtante fragte niemand. Hier war auch niemand, der ihr Antworten geben konnte. Sie war allein auf sich und ihren Verstand gestellt. Und der Verstand sagte ihr, dass sie den Schlüssel zum Häuschen am Schlüsselbrett finden würde.
Zum Glück hing das Schlüsselbrett direkt neben der Haustür, sodass Karina keine weitere Zeit mit Suchen vergeuden musste.
Als Karina die Schlüssel an dem Brettchen sah, schickte sie einen Dankesgruß an ihren Großvater, der stets darauf geachtet hatte, dass die Schlüssel ordentlich beschriftet waren. »Du weißt nie, ob du einmal schnell einen Schlüssel brauchst«, hatte er ihr erklärt, als sie das Schild des Fahrradschlüssels verlor. »Stell dir vor, es brennt oder es ist ein Einbrecher im Haus, dann musst du auf einen Blick wissen, welche Schlüssel du mitnehmen musst.« Deswegen hatten alle Fahrradschlüssel blaue Anhänger. »Blau wie unsere Fahrräder«, lautete die Erklärung des Großvaters. Die Schlüssel zum Briefkasten waren gelb und die zum Gartenhaus grün wie der Rasen und die Blumen. Die Schlüssel der Haustüren waren rot, damit jeder gleich wusste, dass sie wichtig waren.
Karina entdeckte drei Schlüssel mit roten Schildern an den Haken. Auf einem Schild stand ›Katharina Stadt‹. Karina frohlockte, das musste der Schlüssel für das kleine Stadthaus sein, durch das ihre Großtante sie vor einigen Jahren geführt hatte.
An dem Ring befand sich außer dem großen Haustürschlüssel ein kleiner Schlüssel, der anders aussah. »Egal!«, sagte Karina sich. Hauptsache, sie kam in das kleine Haus hinein. Sie griff bereits nach der Haustürklinke, als ihr einfiel, dass sie ihren Autoschlüssel brauchte und wenigstens das Handy einpacken sollte.
Schließlich entschied sie sich, ihre Schultertasche mitzunehmen, in dem sich auch ihr Netbook mit Internetstick und etwas zu schreiben befanden. Man kann ja nie wissen, dachte sie und lachte, weil ihr einfiel, dass dies das Motto ihrer Großmutter gewesen war, über das sie sich als Teenager immer lustig gemacht hatte.
Als sie neben dem kleinen Wagen stand, den sie sich am Anfang des Studiums dank eines Ferienjobs und einer Spende ihrer Eltern geleistet hatte, überlegte Karina kurz, ob sie mit dem Fahrrad fahren sollte wie alle hier. Doch im Gegensatz zu denjenigen, die im Münsterland aufgewachsen waren, war das Fahrrad für Karina kein Fortbewegungsmittel, sondern ein Sportgerät. Jedes Mal, wenn sie ihre Großeltern besucht hatte, und auch jetzt, wunderte sie sich darüber, dass in dieser flachen Region selbst weite Strecken mit dem Fahrrad zurückgelegt wurden. Das war in Stuttgart undenkbar. Dafür gab es hier allerdings kaum öffentliche Verkehrsmittel.
Gesünder wäre es ja, dachte Karina und schob sich hinter das Lenkrad ihres Autos. Sie grinste sich im Rückspiegel an. Aber wer weiß, was ich in dem Haus finde. Womöglich könnte ich das mit dem Fahrrad gar nicht transportieren. Mit diesem Argument hatte sie sich überzeugt und fuhr vergnügt in die Stadt.
»Ein Freund,
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