Brandbücher - Kriminalroman
ein guter Freund«, sang sie laut mit, was sie im Radio hörte. Sie freute sich schon darauf, dass ihre Freundin Jenny kommen würde und änderte den Text in »Eine Freundin, eine gute Freundin« um.
»Hätten Sie gedacht, dass dieses Lied über 80 Jahre alt ist?«, fragte der Moderator, nachdem die letzten Töne verklungen waren. »Wir haben es gespielt für Josefa Reinermann, hier im WDR-Wunschkonzert. Josefa Reinermann erinnert sich daran, dass sie dieses Lied im Kino gehört hat. Wann war das?«
Karina konzentrierte sich auf den Straßenverkehr, sie musste aus der kleinen Straße, an der das Haus ihrer Großtante lag, auf eine viel befahrene Bundesstraße einschwenken, um in die Stadt zu kommen. Nur am Rande hörte sie, was die alte Frau auf die Frage des Moderators antwortete. »Damals noch in der Heilig-Geist-Straße«, bekam Karina mit. Erst als die Frau sagte: »Das war der Film ›Die Drei von der Tankstelle‹«, horchte Karina auf. Sie beachtete den Verkehr nicht, sondern drehte das Radio lauter. »Wie alt sind Sie denn, wenn ich fragen darf?«, wollte der Moderator wissen.
Karina hielt den Atem an. ›Die Drei von der Tankstelle‹, diesen Film hatte ihre Tante auf einer Karte erwähnt.
»Ich werde in der nächsten Woche 94«, antwortete die Frau mit brüchiger Stimme. »Ich war 15, als ich den Film gesehen habe.« Karina hörte ein leises Lachen. »Mein Vater Paul Osper besaß ein Kino und ich habe oft neben dem Filmprojektor gesessen und heimlich mitgeschaut.«
»Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Geburtstag in der nächsten Woche«, schloss der Moderator das Interview.
Karina drehte den Ton leiser. Sie schob sich in eine Lücke zwischen zwei Fahrzeugen und fuhr in die Innenstadt. Um diese Zeit fand sie sofort einen Parkplatz in der Nähe des Häuschens, das sie mit seinen leeren Schaufenstern fast ein wenig traurig ansah.
»Irgendwie ist das auch traurig«, murmelte Karina, »da übersteht so ein Haus den Krieg und wird dann Jahre später doch abgerissen.« Sie dachte an die Menschen, die in dem Haus gelebt hatten. Ihre Tante war die letzte Eigentümerin gewesen. Aber wem hatte es vorher gehört?
Karina holte den Schlüssel aus ihrer Tasche und öffnete die Tür, die zum Laden führte. Ihre Großtante hatte dafür gesorgt, dass wieder Bücherregale an den Wänden standen. Sogar das Schaufenster ließ sie wieder einbauen, das die Vorbesitzer zugemauert hatten. Für kurze Zeit hatte sie versucht, Bücher zu verkaufen. Das gab sie jedoch schnell auf. »Das Internet und die Kaufhäuser, in denen die Bücher in großen Kisten herumliegen, die nehmen uns die wenigen Kunden weg«, hatte sie ihre Entscheidung, die Buchhandlung kurz darauf zu schließen, bei einem der wenigen Telefonate mit Karina begründet.
Inzwischen ärgerte Karina sich, dass sie nicht mehr Interesse an der Großtante gezeigt hatte. Aber ihr Studium hatte viel Zeit gekostet und dann noch das Semester im Ausland. Selbst bei dem kurzen Aufenthalt in den Semesterferien nach dem Tod ihrer Großmutter waren sie nicht so richtig warm miteinander geworden.
Die Regale starrten sie an. Karina fühlte sich unwohl. So viele leere Regale, die wie aufgerissene Münder wirkten. Sie schauderte und ärgerte sich, dass sie keinen Pullover über das T-Shirt gezogen hatte. In dem alten Haus war es kühler als draußen.
Direkt neben dem Eingang entdeckte Karina eine weitere Tür. Sie drückte die Klinke herunter und stand in einem kleinen Flur, von dem eine Holztreppe ins Obergeschoss führte. Auch der Flur war leer, kein Mantel hing an der Garderobe, nicht einmal ein Regenschirm oder eine alte Mütze sorgten für ein Lebenszeichen.
Mit gemischten Gefühlen betrat Karina die erste Treppenstufe. Ein Knarren begrüßte sie, das keine Ruhe mehr gab, bis sie den Boden im Obergeschoss erreicht hatte.
Auch hier wirkte alles verlassen. In einem Zimmer, das Karinas Erinnerung nach das Schlafzimmer gewesen war, hing ein Bild an der Wand. Die betenden Hände von Dürer. Das gleiche Bild hing auch im Haus der Großeltern. Anscheinend reichte der Tante ein Bild. Was sollte sie auch mit vier betenden Händen?
Karina gefiel die Vorstellung nicht, dass das Bild von der Abrissbirne zermalmt wurde. Sie nahm es von der Wand und steckte es in die Umhängetasche. Vielleicht konnte sie es bei eBay versteigern, wenn sich sonst niemand fand, der das Bild haben wollte. Nun war auch dieses Zimmer leer wie die anderen Zimmer in diesem Geschoss.
Karina suchte nach
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