Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
zwanzig Jahre gab’s solche Winter. Der letzte hatte von Januar bis April gedauert
und jeden von der Insel vertrieben, der nicht hierher gehörte.
Was, so gesehen, ja nicht das Schlechteste war.
Keiner weiß, wie’s kommt, darüber waren sie sich einig. Keiner.
Mit dem Handrücken wischten sie sich den Kälterotz von der Nase und beschlossen, wenn die Fähre anlegte, sei es genau die richtige Zeit für einen vernünftigen Grog. Solange die Vitte fuhr, gab’s keinen Grund, mit Rum sparsam zu sein.
Thiel, der neben ihnen stand, würdigten sie keines Blickes.
»Kein Mensch braucht heute noch so viele Briketts«, hatte sich die Frau am Telefon von Kohlen-Müller gewundert.
»Ich schon«, hatte Thiel geantwortet und versichert, er werde am Hafen sein und den Fahrer zur Sprenge lotsen. Dass der Spaß teuer werde, solle sie ruhig seine Sache sein lassen.
Der Kohlenlaster stand vorn an den Schotten. Er rollte als Erster von Bord und hielt kurz, um Thiel auf den Beifahrersitz klettern zu lassen. Zehn Minuten später wartete im schwarzstaubigen Schnee vor Thiels Tür ein Berg von Briketts darauf, im Schuppen aufgestapelt zu werden.
Er arbeitete schnell. Lud die Schubkarre voll, schichtete Stück um Stück aufeinander, fuhr die Karre wieder hinaus, holte Nachschub. Er war durchgeschwitzt,
als er den letzten Brikettbruch in einen Eimer sammelte und ins Haus ging.
Ins Mörderhaus, wie die Kinder es nannten, die nach der Schule einen Umweg über den Boddendeich machten, um aus sicherer Entfernung einen Blick zu riskieren und davonzustieben, sobald Thiel vor die Tür trat.
Die Wärme breitete sich allmählich aus. Zog durch die offenen Türen im Erdgeschoss nach oben und sorgte auch dort für erträgliche Temperaturen. Vorausgesetzt, man war vernünftig angezogen. Nicht wie Thiel nur mit einer Unterhose, als er nach dem Duschen aus seiner Reisetasche die letzten sauberen Kleidungsstücke hervorkramte. Er ging zurück in die Küche. Zog sich an, legte in Stube und Küche noch einmal Kohlen nach und machte es sich auf dem Kanapee bequem. Essen würde er später.
Als er sich das Kissen unter dem Kopf zurechtschob, glaubte er einen vertrauten Geruch zu erkennen.
Was natürlich nicht sein konnte. Nach so langer Zeit.
Verdammt, dachte er. Ist das eine Art, gegen die Zellentür zu wummern? Knast hin oder her. Nicht zu Unrecht galt es als Folter, Gefangene zu jeder beliebigen Zeit aus dem Schlaf zu reißen. Glaubte er jedenfalls irgendwo gelesen zu haben.
Wieder diese dumpfen Schläge. Vier, hörte Thiel und fühlte Zweifel in seinen Schlaf sickern.
Als er die Augen öffnete, begriff er nicht gleich.
Wo war sein Tisch? Das Regal mit seiner spärlichen Bibliothek? Die Galerie ausgeschnittener Zeitungsbilder an der Zementwand?
Und vor allem: Was hatte es mit dem blauen Licht auf sich, das draußen vorm Fenster zuckte?
Er schob die Gardine einen Spalt auseinander und sah hinaus. Feuerwehr, Polizei, ein gutes Dutzend.
Thiel schüttelte den Kopf wie ein nasser Hund. Das half, die Gedanken klar zu bekommen. Gegen das Angstgeschwür im Bauch nützte es nichts. Es brach auf und überschwemmte ihn mit alten Bildern. Von wütenden Fäusten, die ihn vor sich her stießen und er erst in der nassen Asche merkte, dass er nicht einmal Schuhe anhatte.
Diesmal nahm er sich die Zeit und schlüpfte in die Turnschuhe, die er im Haus trug. Bevor die nächsten Schläge kamen, riss er die Tür auf.
»Was, zum Teufel, soll das?« Thiels Herz klopfte vor Wut und Angst, die nicht schwächer wurden, als er den weißen Helm mit dem halb heruntergelassenen Visier vor sich sah. Das Gesicht dahinter konnte er nicht erkennen.
»Wir müssen hier rein.« Der Unbekannte in der Feuerwehrjacke hob ein Strahlrohr an und trat einen Schritt vor. Hinter ihm wand sich der Schlauch wie eine fette Riesenschlange bis zum Löschfahrzeug.
Thiels Blick fiel auf das Schild an der Jacke. Meves. Matthias Meves, den alle nur Matze nannten. Damals jedenfalls.
»Komm wieder, wenn’s brennt«, sagte Thiel und wollte die Tür ins Schloss drücken. Meves’ Stiefel kam ihm zuvor.
»Ich würde sagen, du guckst dir mal deinen Schornstein an und lässt uns unsere Arbeit machen.« Er schob sich an Thiel vorbei ins Haus.
Nur kurz wandten die anderen ihre Gesichter zu ihm herüber, als Thiel auf den Hof lief, dann starrten sie wieder nach oben.
Eine dicke Rauchsäule stieg über dem Dach in den Nachthimmel. Steil und schnell wie unter großem Druck. Als ein Stein
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