Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
wird niemand mehr im Haus sein, wenn wir abrücken.« Basta. Mehr gab es nicht zu sagen. Duve hatte Wichtigeres zu tun. Die Brandwache für die Nacht zu organisieren, zum Beispiel.
Man ließ ihn noch einmal ins Haus. Thiel wechselte Sweatshirt und Hose und zog seine Stiefel an. Dann stopfte er alles Notwendige in die Tasche, mit der er vor zwei Tagen angekommen war.
Aus der Traum von der Rückkehr zu den Wurzeln. Zurück auf null – von vorn anfangen gelang vielleicht anderen. Bei ihm war es schiefgegangen. Und zwar gründlich.
Er wühlte in seinen Jackentaschen. Irgendwo musste er die Nummer des Wassertaxis haben.
Es gab kein Taxi. Nicht einmal wenn heller Tag wäre, käme jemand auf die Schnapsidee, bei diesem Eisgang ein leichtes Boot über den Bodden zu schicken. Er müsse, hörte Thiel noch, eben warten, bis morgen Früh die Vitte wieder fuhr, dann brach die Verbindung ab.
Thiel wandte sich um. Sah verschlossene, abweisende Gesichter, gegen Rauch und Kälte zusammengekniffene Augen. Wer zu ihm herüberschielte, ließ sich das nicht anmerken.
Keiner würde ihm Quartier geben, so viel war klar. Er fand es seltsam, wie wenig ihm das ausmachte. Es war schweinekalt, er hatte kein Dach über dem Kopf und stand neben diesem Dorfpolizisten mit nichts als ein paar ungewaschenen Klamotten in seiner Tasche. Grund genug also, sich aufzuregen. Was aber sinnlos war und an seiner Lage nicht das Geringste ändern würde.
»Gibt es hier inzwischen so was wie eine Arrestzelle?«
»Bitte?« Soweit Pieplow sich erinnerte, hatte noch nie jemand danach gefragt.
»Eine Zelle«, wiederholte Thiel. »Wo ihr Besoffene unterbringt, zum Beispiel.«
»Das gibt’s hier nicht.« Besoffene schon, aber keine
Ausnüchterungszelle. Wer die brauchte, musste nach Bergen verfrachtet werden. Was eigentlich nur am Herrentag hin und wieder vorkam.
»Schade«, sagte Thiel. »Es wäre eine Lösung gewesen. Bei diesem Wetter schläft es sich im Arrest besser als am Strand.«
»Für eine Nacht wird sich was anderes finden.«
»Das glauben Sie ja wohl selbst nicht.« Thiel musterte Pieplow von der Seite und fand, dass er naiver redete, als er aussah.
»Was ist mit Ihrer Schwester?«
»Die wird nicht mal die Tür aufmachen, wenn sie mich sieht.«
»Andere Verwandte? Freunde?«
Thiel schüttelte den Kopf. Keine. Jedenfalls jetzt nicht mehr. Er sah zu den Männern hinüber, die einer nach dem anderen Richtung Dorf verschwanden. Es blieb nur, wer Brandwache hatte.
Kurz nach elf schloss sich die Beifahrertür, und Pieplow ließ den Streifenwagen an. Er hatte einiges versucht, um den haftentlassenen Thiel unterzubringen. Zweimal war ihm deswegen der Vogel gezeigt worden, was er geflissentlich ignoriert hatte. Genauso wie Erwin Schultes Frage, ob er noch ganz bei Trost sei. Der olle Pape hatte gar nichts gesagt und Mall Breker nur »vergiss es« geknurrt und gelben Priemsaft in den Schnee gespuckt. Allerdings weit genug weg, als dass Pieplow es hätte persönlich nehmen müssen.
Auch die Möglichkeit, den Pastor anzurufen, hatte Pieplow erwogen. Sozusagen den Fachmann in Fragen des Asyls für gestrandete Seelen. Doch dann war er auf eine andere Lösung des Problems gekommen. Sie gefiel ihm nicht, war aber naheliegend.
Wo der Ostwind über die freien Wiesen fegte, pflügte der Wagen durch kniehohe Schneewehen. Am Aufgang zum Seedeich reichte die weiße Decke bis unter die Äste der Windflüchter.
Der Weg von der Straße zur Seemöwe war nicht geräumt. Als sie sich zur Haustür vorkämpften, rutschte ihnen der Schnee in die Stiefel. Pieplow schloss auf und ging voran. Der Geruch war ihm noch vertraut. Nach Holz und Kaffee und alten Sesseln. Im Hintergrund eine Spur seines Rasierwassers. Etwas mehr als dreizehn Jahre hatte er die kleinere der beiden Wohnungen in der Seemöwe bewohnt. Als Teil eines Security-Deals, wie Benzlau es nannte und damit meinte, dass ein Polizist im Haus praktisch war, wenn man die meiste Zeit des Jahres zwischen Berlin, Köln und München hin- und her hetzte, um Filme zu produzieren.
Noch wusste Benzlau nicht, dass er einen neuen Mieter suchen musste. Pieplow hatte sich nach wie vor nicht zur Kündigung durchringen können. Der Abschied vom Junggesellenleben war nichts, was man überstürzen sollte. Selbst dann nicht, wenn man glaubte, die Frau seines Lebens gefunden zu haben.
Ob das gesunde Skepsis oder fast schon pathologische Entscheidungsunfähigkeit war, hatte er noch nicht abschließend geklärt.
Es
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