Brandfährte (German Edition)
sobald sie ihre eigene Wohnung in dem anonymen Komplex eines Hochhauses verließen.
Der Flur im zehnten Stock war seit Jahren nicht mehr gestrichen worden. Die Farbe erinnerte entfernt an ein blasses Grün. Sparbirnen in den Lampen tauchten den Gang in ein diffuses Dämmerlicht. Vor der Tür gegenüber dem Fahrstuhl lagen drei Paar Kinderschuhe kreuz und quer auf der Fußmatte. Ein Buggy, der seinem ausgeleierten, vollgekleckerten Aussehen nach schon mehreren Generationen von Kindern gedient hatte, stand verlassen vor der Tür.
Suchend sah sich Steenhoff um. Am Ende des Flurs ging eine Tür auf. Eine dünne, sehr kleine Frau schaute in seine Richtung und winkte ihm zu.
Steenhoff schätzte Gabriela Senkers Mutter auf Anfang 70 . Doch als er näher kam, sah er, dass sie trotz ihrer gebeugten Haltung wesentlich jünger sein musste.
Steenhoff zeigte seinen Dienstausweis und blieb ein Stück weiter, als es für ein normales Gespräch üblich ist, vor ihr stehen. Er wusste, dass manchmal 20 Zentimeter darüber entschieden, ob sich Menschen bedrängt fühlten.
Die Frau studierte eingehend seinen Ausweis, dann sah sie ihn prüfend an.
«Womit kann ich Ihnen helfen?»
Der kritische Punkt. Jetzt würde sich entscheiden, ob Marlene Senkers sich öffnen würde oder nicht.
«Frau Senkers. Ich weiß, dass das schwer für Sie ist», begann Steenhoff vorsichtig. «Aber die Bremer Kriminalpolizei ermittelt im Fall einer gewaltsam ums Leben gekommenen jungen Frau. Und in dem Zusammenhang habe ich noch ein paar Fragen zu Ihrer Tochter Gabriela.»
«Was hat Gabriela damit zu tun?», fragte die Frau verblüfft.
«Sehr wahrscheinlich nichts. Aber es könnte sein, dass Ihre Tochter und das Opfer im aktuellen Fall etwas gemeinsam haben», erwiderte Steenhoff vage.
Im selben Moment öffnete sich die Wohnungstür gegenüber dem Fahrstuhl. Ein etwa fünfjähriges Mädchen rannte kreischend und lachend vor seinem älteren Bruder den Hausflur entlang in ihre Richtung.
Marlene Senkers stieß die Tür hinter sich mit der Hand auf und bat ihren Besucher mit einer stummen Geste hineinzugehen.
«Möchten Sie einen Cognac?», fragte sie Steenhoff, nachdem sie ihm einen Platz auf der Couch des kleinen Wohnzimmers angeboten hatte.
Steenhoff verabscheute Cognac. Aber ein Blick in den gläsernen Schrank mit den angebrochenen Gin-, Weinbrand- und Cognacflaschen verriet ihm, dass Marlene Senkers wohl des Öfteren trank.
Er sah sie lächelnd an. «Danke. Ich nehme sehr gerne ein Glas.»
Wie Steenhoff erwartet hatte, goss sich auch Marlene Senkers einen kräftigen Schluck ein.
«Was hat Ihre Tochter studiert?», begann Steenhoff. Die Frage war wie ein Brocken, den er einem hungrigen Tier hinwarf. Die Frau stürzte sich sofort darauf. Endlich konnte sie wieder von Gabriela erzählen. Steenhoff ließ sie reden, ohne sie zu unterbrechen.
Langsam entstand vor Steenhoffs Augen das Bild einer ungebundenen, abenteuerlustigen jungen Frau. Ein überzeugter Single, wie ihre Mutter mehrfach stolz betonte. Steenhoff vermutete, dass Marlene Senkers entweder geschieden war oder seit langem getrennt lebte und ihre Enttäuschung über Männer auf ihre Tochter übertragen hatte.
«Hatte Gabriela nie einen Freund?»
Marlene Senkers sah ihn entgeistert an. «Natürlich, die Jungs rissen sich ja um sie. Aber Gabriela war sehr wählerisch.»
Streng fügte sie hinzu: «Und das war auch gut so. Es gab immer wieder Phasen, in denen sie sich ganz dem Studium oder nur ihren Freundinnen widmete.»
Sie schenkte sich noch einmal nach. «Wissen Sie, sie war nicht so eine, die nur darauf wartete, dass ein Mann sich für sie interessierte.» Die Frau schnäuzte sich laut. Dann gönnte sie sich noch einen hastigen Schluck.
«Und wie war das kurz vor ihrem Tod? War sie damals auch gerade Single?», fragte Steenhoff und führte so die Mutter vorsichtig in das letzte Lebensjahr ihrer Tochter zurück.
«Ja. Sie wollte in dem Sommer ein halbes Jahr nach Asien und dort in einer Firma erste Berufserfahrungen sammeln. Da konnte sie keinen Mann gebrauchen.»
«Ja, das ist natürlich klar», sagte Steenhoff bestätigend.
Er bat Marlene Senkers, ihm ein Bild von ihrer Tochter zu zeigen. Die Frau erhob sich mühsam, öffnete die Schublade eines Sideboards und legte ihm ein großes Album auf den Tisch. Während Steenhoff das Album langsam durchblätterte, verschwand die Frau in der Küche, um einen Kaffee zu kochen.
Gabriela hatte feine Gesichtszüge, dunkle, halblange Haare
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