Brandfährte (German Edition)
Steenhoff in die kleine Wohnstraße ein. Auf der rechten Seite standen einfache Siedlungshäuschen aus den 50 er-Jahren. Gegenüber lagen moderne dreistöckige Mietshäuser mit viel zu großen, vorspringenden Balkonen. Die Bürgersteige waren gefegt und die Büsche akkurat gestutzt.
Karin Ahlers wohnte in einem gelb gestrichenen Häuschen auf der rechten Straßenseite. Die Beete im Vorgarten waren mit weißen Steinen eingefasst. Zwischen den Azaleen standen clownartige Figuren.
Steenhoff hatte kaum geklingelt, als ihm eine rundliche kleine Frau Anfang 50 öffnete.
«Möchten Sie vielleicht ablegen?»
Die Frau wirkte förmlich und gefasst. Sie zeigte auf eine hölzerne Garderobe im Windfang, an der eine Marionette hing.
Die schmale Treppe, die in den ersten Stock führte, war mit Porzellanfiguren dekoriert, dralle Bäuerinnen mit lachenden Gesichtern. Das Wohnzimmer, in das Karin Ahlers ihn bat, erinnerte Steenhoff eher an eine Puppenstube als an das Zimmer einer erwachsenen Frau.
«Warten Sie, ich mache Ihnen Platz», sagte Karin Ahlers entschuldigend und räumte ein paar Clowns in der Größe von Kleinkindern aus dem Weg.
Die Frage von Karin Ahlers kam unvermittelt: «Wann kann ich endlich meine Tochter beerdigen?»
Sie setzte sich Steenhoff gegenüber in einen Sessel und nahm eine Puppe in Schaffnerinnenuniform auf den Schoß. Angespannt wartete Karin Ahlers auf Steenhoffs Antwort.
«Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen.» Die Frau schien seine Worte gar nicht wahrzunehmen. Sie wollte etwas anderes hören. Er beeilte sich zu sagen: «Mitte kommender Woche werden wir den Leichnam Ihrer Tochter voraussichtlich freigeben können.» Karin Ahlers hob hilflos die Schultern. «Ich versteh das alles nicht. Es war doch ein Unfall. Und jetzt kommt erst Ihr Kollege, Herr Rübner …»
«Manfred Rüttger», korrigierte Steenhoff freundlich.
«… und jetzt Sie. Was hat die Kriminalpolizei mit dem Tod meiner Tochter zu tun?»
«Wir mussten erst klären, was den Brand verursacht hat.» Steenhoff machte eine kurze Pause. «Frau Ahlers, es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass Ihre Tochter Opfer eines Verbrechens wurde.»
Karin Ahlers starrte ihn an. Steenhoff ließ ihr einen Moment Zeit, die Nachricht zu begreifen. Als sie weiterhin nicht reagierte, entschied er, deutlicher zu werden.
«Wir sind überzeugt, dass sie ermordet wurde.»
Karin Ahlers sah ihn stumm an. Kerzengerade saß sie da. Ihre Hände kneteten verzweifelt die dünnen Arme der Puppe.
Wie Steenhoff diese Momente hasste!
Wie oft hatte er in den vergangenen Jahren schon die Welt eines Menschen mit ein, zwei Sätzen zum Einsturz gebracht. Als junger Polizist hatte er noch nach möglichst schonenden Worten gesucht, wenn er mit seinem furchtbaren Wissen den ahnungslosen Angehörigen gegenüberstand und ihnen die Todesnachricht überbringen musste. Inzwischen wusste er, dass keine noch so feinfühlige Formulierung sie vor der Verzweiflung bewahren konnte. Beklommen saß Steenhoff zwischen den Stofftieren und wünschte, er hätte eine Nachbarin von Karin Ahlers zu dem Gespräch hinzugezogen. Er wusste noch nicht einmal, ob es in Nienburg so etwas wie eine Notfallseelsorge gab.
Er griff in seine Jacke und suchte nach Taschentüchern. Aber Karin Ahlers weinte gar nicht.
«Frau Ahlers, ich weiß, dass das sehr schwer für Sie ist. Aber um den Täter fassen zu können, muss ich Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen.»
Karin Ahlers nickte.
Steenhoff holte seinen Notizblock und einen Stift hervor. Er begann mit einer einfachen Frage.
«Wann ist Ihre Tochter nach Bremen gezogen?»
Stockend begann Karin Ahlers zu erzählen.
Langsam gewann die junge Frau, die Steenhoff nur von den Aufnahmen aus der Gerichtsmedizin kannte, an Konturen. Maike Ahlers schien nicht viel mit ihrer Mutter gemein zu haben. «Sie hat nie viel im Haus oder mit Puppen gespielt», sagte Karin Ahlers, und ihre Stimme klang vorwurfsvoll.
Steenhoff erfuhr, dass Maike Ahlers bereits als Jugendliche gern reiste. Um ihr Fernweh zu stillen, jobbte sie in den Ferien oder nutzte Angebote, Kriegsgräber im europäischen Ausland zu pflegen. Sie wollte die ganze Welt kennenlernen. Obwohl sie auf ihren Reisen viele Abiturienten und Studenten traf, entwickelte sie selbst keinen großen schulischen Ehrgeiz. So war sie denn auch zufrieden, zuerst in Nienburg und später in Bremen als Arzthelferin zu arbeiten.
«Warum ist sie nach Bremen gegangen?», fragte Steenhoff.
Karin Ahlers
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