Brandung des Herzens
Schließlich ging ihr Atem wieder langsamer. Sie merkte, daß Caleb sie mit seinen Armen umschlungen hielt, sanft ihre Wangen und ihr Haar streichelte und ihr wieder und wieder tröstlich versicherte, daß das Schlimmste überstanden war... sie hatten endlich den höchsten Punkt des Passes erreicht. Willow stieß einen langen, zitternden Seufzer aus und öffnete die Augen.
Caleb sah die Farbe in Willows Wangen zurückkehren und fühlte eine so große Erleichterung in sich aufsteigen, daß es fast schmerzte. Er zog sie noch fester an sich und schob sie ein wenig herum, bis sie in die untergehende Sonne schauen konnte. Die Wolken hatten sich fast völlig aufgelöst bis auf einige zarte goldene Banner, die von den höchsten Gipfeln flatterten. Der Schnee begann bereits zu schmelzen und rann in stummen schwarzen Tränen den Berggipfel hinunter.
»Schau nur«, sagte Caleb und zeigte nach vom.
Willow blickte auf den handtellergroßen Schneefleck ganz in der Nähe, der in der untergehenden Sonne glitzerte und Tränen von Gold weinte. Sie sah, wie sich ein Tropfen bildete, sich langsam von dem noch gefrorenen Schnee löste und abwärts rollte auf dem ersten Schritt seiner langen Reise zurück ins Meer.
Das Wasser floß nach Westen, dorthin, wo die Sonne unterging.
11. Kapitel
Willow erwachte, als warme Sonnenstrahlen ihr Gesicht liebkosten und Ishmaels aufgeregtes Wiehern in ihr Bewußtsein drang. Sie fuhr erschrocken hoch. Es dauerte einen Moment, bis sie sich wieder erinnerte, wo sie war - in einem winzigen hängenden Tal am westlichen Abhang der Rocky Mountains. Das ganze Tal bestand aus knapp zehn Quadratkilometern Weideland, auf drei Stellen von steilen, bewaldeten Hängen umgeben. Die vierte Seite fiel so abrupt ab, daß der Fluß, der das Tal entwässerte, als Wasserfall in die Tiefe stürzte.
»Caleb?«
Niemand antwortete auf Willows Ruf. Verspätet fiel ihr ein, daß Caleb lange vor dem ersten Morgenlicht mit Trey aufgebrochen war, um die vier Stuten zu suchen, die gegen Mitternacht immer noch nicht den Weg in das kleine Tal gefunden hatten. Willow hatte Caleb begleiten wollen, war jedoch nur drei Schritte weit gekommen, bevor sie kraftlos zu Boden gesunken war. Caleb hatte sie zu den Decken zurückgetragen. Sie hatte geträumt, sie folgte ihm, und war jedesmal in Tränen ausgebrochen, wenn sie zwischendurch aufwachte und feststellen mußte, daß sie ganz allein war und ohne ihre Stuten.
Jetzt hielt Willow nichts mehr unter den warmen Decken. Sie kroch eilig aus der Bettrolle, ergriff das Gewehr, das Caleb für sie dagelassen hatte, und machte sich auf, um nachzusehen, was Ishmael so beunruhigte. Die Position der Sonne am Himmel sagte ihr, daß es Spätnachmittag war. Sie hatte die ganze Nacht und den größten Teil des Tages geschlafen.
Ishmael schnaubte und zerrte aufgeregt an dem Seil, mit dem er angepflockt war.
»Immer mit der Ruhe, Junge«, sagte Willow und blickte in die Richtung, in die der Hengst starrte. »Was ist denn los?«
Wieder zerschnitt Ishmaels Ruf die Stille.
Mit dem Wind kam ein schwaches Wiehern als Antwort. Ein paar Minuten später trotteten drei der vermißten Stuten erschöpft über die Wiese. Willow befreite den Hengst von dem Pflockseil und führte ihn zu einem Felsblock. Mit dem Gewehr in der Hand sprang sie von dem Felsen auf Ishmaels nackten Rücken. Wenige Augenblicke später galoppierte er freudig auf die Stuten zu und wieherte einen Willkommensgruß. Willow blickte angestrengt auf den Waldrand hinter den Stuten, sah jedoch kein Anzeichen von Caleb, seinem großen Montana-Pferd oder Dove, der einzigen noch fehlenden Stute.
Mit wachsender Besorgnis wartete Willow, während Ishmael die Stuten beschnupperte und sich vergewisserte, daß sie tatsächlich dieselben waren, die er verloren hatte. Nach ein paar Augenblicken begannen die Stuten, hungrig zu grasen und ignorierten den entzückten Hengst.
»Nun ist es genug, Ishamel. Laß uns lieber nachschauen, was mit Caleb passiert ist.«
Willow hatte kaum den Rand der Wiese erreicht, als Ishmael die Ohren aufstellte und leise wieherte. Ein antwortendes Wiehern schallte aus dem Wald. Trey trottete in die Lichtung. Eine Seite aus Calebs Tagebuch war herausgerissen worden und am Sattelknauf befestigt. Willow löste das Blatt und faltete es auseinander.
»Ich versuche, Dove zum Weitergehen zu bewegen. Die anderen Stuten wurden wieder munter und zerrten an ihren Führungsleinen , sobald sie unterhalb dreitausend Meter kamen. Sie
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