Brandwache
stimmte noch alles. Ehe ich zu einem
zweiten Schlag ausholen konnte, packten sie meine Arme und schleppten
mich aus dem Zimmer.
»Sie leben in der Vergangenheit, und keiner ist da, der sie
rettet. Sie können die Hände nicht vor Augen sehen, Bomben
fallen auf sie nieder, und Sie sagen mir, sie spielten keine Rolle?
Sie wollen ein Historiker sein?«
Die Lakaien bugsierten mich zur Tür hinaus und durch die
Eingangshalle. »Langby hat St. Paul gerettet. Kann ein Mensch
eine wichtigere Rolle spielen? Sie sind kein Historiker! Sie sind
bloß ein…« Ich wollte ihn mit einem
häßlichen Schimpfwort treffen, doch mir fielen nur Langbys
Flüche ein. »Sie sind ein dreckiger Nazi-Spion!«
schrillte ich. »Sie sind nichts weiter als eine faule,
bourgeoise Schnepfe!«
Mit einem Stoß beförderten sie mich nach draußen,
so daß ich auf Händen und Knien landete, dann knallten sie
mir die Tür vor der Nase zu. »Nicht für Geld
möchte ich Historiker sein!« brüllte ich. Dann
rappelte ich mich hoch und ging, mir den Stein der Brandwache
ansehen.
31. Dezember
Ich muß dies bruchstückhaft niederschreiben. Meine
Hände sehen schlimm aus, und die Behandlung durch Dunworthys
Jungs hat mir auch nicht gerade gutgetan. Sporadisch kommt Kivrin
herein, setzt ihre Heilige-Johanna-Miene auf und schmiert mir soviel
Salbe auf die Hände, daß ich kaum noch einen Bleistift
halten kann.
Die Station St. Paul gibt es natürlich nicht, ich stieg also
in Holborn aus. Während ich zu Fuß weiterlief, dachte ich
über mein letztes Zusammentreffen mit Dekan Matthews nach. Es
fand an dem Morgen nach dem großen Brand in der City statt.
Heute morgen.
»Ich habe gehört, daß Sie Langby das Leben
retteten«, sagte er. »Ich weiß auch, daß Sie
beide St. Paul gerettet haben.«
Ich zeigte ihm den Brief meines Onkels und er starrte darauf, als
wüßte er nichts Rechtes damit anzufangen. »Man kann
nichts in die Ewigkeit hinüberretten«, sagte er, und einen
bangen Augenblick lang dachte ich, er wollte mir sagen, Langby sei
tot. »Wir müssen St. Paul so lange bewachen, bis Hitler den
Befehl gibt, die Provinz zu bombardieren.«
Die Angriffe auf London hören bald auf, hätte ich ihm am
liebsten gesagt. In ein paar Wochen läßt er die Provinz
bombardieren. Canterbury, Bath, Ziele sind immer die Kathedralen. Sie
und St. Paul werden den Krieg überstehen, und später werden
Sie den Stein der Brandwache weihen.
»Ich bin aber optimistisch«, fuhr er fort. »Mir
scheint, das Schlimmste ist vorbei.«
»Ja, Sir.« Ich dachte an den Stein, dessen Inschrift
nach so langer Zeit immer noch lesbar ist. Nein, Sir, das Schlimmste
ist noch nicht vorbei.
Bis kurz vor der Kuppe des Ludgate Hill konnte ich mich
orientieren. Dann irrte ich ziellos umher, wie jemand, der auf einem
Friedhof umherwandert. Erst da fiel mir auf, wie sehr der Schutt dem
weißen Verputz ähnelt, aus dem Langby mich herausgraben
wollte. Den Stein konnte ich nirgends finden. Schließlich
wäre ich fast darüber gestolpert. Ich prallte zurück,
als hätte ich versehentlich auf ein Grab getreten.
Mehr ist nicht übriggeblieben. Man sagt, in Hiroshima
hätten im Zentrum der Explosion Bäume unversehrt gestanden,
in Denver war es die Treppe des Kapitols. Aber in beiden Fällen
stand nirgendwo geschrieben: ›Zum Gedenken an die Frauen und
Männer der Brandwache, die mit Gottes Hilfe diese Kathedrale
retteten.‹ Mit Gottes Hilfe.
Ein Teil des Steins ist abgebrochen. Manche Historiker behaupten,
es habe noch eine Zeile gegeben, die lautet: ›Für alle
Ewigkeit.‹ Ich kann es mir nicht vorstellen, nicht, wenn Dekan
Matthews die Inschrift abgefaßt hat. Und keiner von der
Brandwache hätte das geglaubt.
Wir retteten St. Paul jedesmal, wenn wir eine Brandbombe
löschten, und nur so lange, bis die nächste fiel. Wir
beobachteten die Gefahrenstellen, kleine Brände erstickten wir
mit Sand und Handpumpen, große mit unseren Körpern, damit
dieses riesige komplexe Bauwerk nicht abbrannte.
Ich finde, das liest sich wie ein Protokoll über das
Geschichtspraktikum 401. In diesem Moment wird mir klar, welche
Aufgabe ein Historiker erfüllt. Leider habe ich meine Chance,
einer zu werden, genauso flugs zum Fenster hinausgeworfen wie sie die
Präzisionsbombe zum Portal hinein. Nein, Sir, das Schlimmste ist
noch lange nicht überstanden.
Der Stein weist unecht aussehende Brandspuren auf, und die Legende
besagt, der Dekan von St. Paul habe vor diesem Ehrenmal gekniet und
gebetet, als die Bombe
Weitere Kostenlose Bücher