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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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bei den
Baedaker-Angriffen auf Bath ums Leben. Enola starb erst 2006, ein
Jahr, bevor sie St. Paul in die Luft sprengten.
    Ich bin mir nicht sicher, ob ich dem Bericht glauben kann oder
nicht, aber es ist mir egal. Genauso wie Langby dem alten Mann aus
der Zeitung vorgelesen hatte, handelt es sich hierbei um einen
simplen Akt von Freundlichkeit. Sie denken wirklich an alles.
    Nicht ganz. Sie schrieben mir nicht, was mit Langby passierte.
Doch während ich dies niederschreibe, merke ich, daß ich
es bereits weiß: Ich habe ihm das Leben gerettet. Eigentlich
ist es nicht wichtig, ob er am nächsten Tag im Krankenhaus
starb; obwohl die Historische Fakultät alles getan hat, um es
mir beizubringen, glaube ich nicht recht daran, daß man nichts
in die Ewigkeit hinüberretten kann. Mir kommt es so vor, als sei
Langby in die Ewigkeit eingegangen.

3. Januar
    Heute besuchte ich Dunworthy. Ich weiß selbst nicht, was ich
ihm sagen wollte – irgendeinen Schwulst über meine
Bereitschaft, in der Brandwache der Historie zu dienen, die Welt vor
den herniederfallenden Brandbomben des menschlichen Herzens zu
schützen, schweigend wie ein Heiliger.
    Doch als er mich über seinen Schreibtisch hinweg kurzsichtig
anblinzelte, kam es mir so vor, als schaue er auf das letzte
strahlende Bild von St. Paul im Sonnenlicht, bevor es für immer
verschwand, und als wüßte keiner so gut wie er, daß
man die Vergangenheit nicht retten kann. Unwillkürlich sagte
ich: »Es tut mir leid, daß ich Ihre Brille zerbrochen
habe, Sir.«
    »Wie gefiel Ihnen St. Paul?« fragte er. Wie bei meinem
ersten Gespräch mit Enola war mir zumute, als deute ich alle
Zeichen falsch. Vielleicht empfand er gar keine Trauer über den
Verlust, sondern etwas ganz anderes.
    »Ich war begeistert, Sir«, antwortete ich.
    »Ja«, meinte er, »mir geht es genauso.«
    Dekan Matthews hat unrecht. Während des gesamten Praktikums
habe ich mit der Erinnerung gekämpft, bloß um
festzustellen, daß sie gar nicht mein Feind ist und daß
es keine heilige Bürde bedeutet, Historiker zu sein. Denn
Dunworthy blinzelt nicht in das unheilvolle Sonnenlicht des letzten
Morgens, sondern in die Dämmerung des ersten Nachmittags; er
schaut durch das große Westportal in den schattigen
Kirchenraum, und dort sieht er das, was in uns bleibt, Langby, jeden
einzelnen Augenblick, alles, was wir in die Ewigkeit
hinüberretten.

 
Die Liturgie
bei der Totenbestattung
     
     
    Einführung
     
    Einige Ideen zu Geschichten sind einfach besser als andere,
deshalb werden sie so oft gestohlen. Eine dieser Ideen besteht in der
Vorstellung, daß jemand bei seinem eigenen Begräbnis
zugegen ist: Sie scheint die Menschen auf einer ganz bestimmten
tiefen und nicht der Mode unterworfenen Ebene anzusprechen, denn ich
habe sie dem Tom Sawyer des General Hospital entnommen; wer
weiß, wo sie sonst noch verarbeitet sein mag.
    An dem Tag, als Luke zurückschlich, um sich das eine oder
andere zu besorgen (er war auf der Flucht vor den einen und anderen),
und seine eigene Trauerfeier in vollem Gang fand, dachte ich: 0 Gott!
Jetzt werden die Leser Mark Twain aber zerreißen! Und fast
sogleich begann ich über die Möglichkeit nachzusinnen,
selbst die Idee zu stehlen. Ich mußte ständig an den
entsetzten Gesichtsausdruck denken, den Tante Polly gehabt haben
muß, bevor sie begriff, daß Tom tatsächlich am Leben
war. Ich dachte, als sie Luke erblickte, wie er grinsend seinen
eigenen Elogen lauschte, muß sie ausgesehen haben, als
hätte sie einen Geist erblickt.

Ich hätte nicht herkommen sollen, dachte Anne, und
ihre behandschuhten Hände verkrampften sich in ihrem
Schoß. Sie war früh genug gekommen, um einen guten
hinteren Platz zu bekommen, aber nicht so früh, daß die
Leute tuscheln würden. Sie hatte im hinteren Teil der Kirche nur
einen Augenblick innegehalten; einen tiefen Atemzug getan und den
Kopf stolz erhoben; und in diesem Moment hatte sich der alte Mr. Finn
auf sie gestürzt, ihren Arm ergriffen und sie zu der leeren Bank
hinter der für die Trauerfamilie reservierten geführt, die
durch eine schwarze Schnur abgesperrt war.
    Ich hätte nicht allein herkommen sollen, dachte sie. Ich hätte meinen Vater dazu bringen sollen, mitzukommen. Bei diesem Gedanken sah sie das Gesicht ihres Vaters vor sich,
das vor Ärger rot gewesen war, als sie ihre schwarze Haube
festgebunden hatte.
    »Du gehst also zu dieser Beerdigung?« hatte er
gefragt.
    »Ja, Vater.« Sie hatte ihr graues Cape über dem
grauen

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