Brandwache
Seidenkleid zugeknöpft und die Basthaube unter dem Kinn
befestigt.
»Und du trägst nicht einmal Schwarz?«
Sie hatte ruhig die Handschuhe angezogen. »Mein schwarzer
Umhang ist ruiniert«, hatte sie erwidert, während sie daran
dachte, wie sein Gesicht ausgesehen hatte, als sie in jener Nacht
zurückgekommen war; den schwarzen Mantel aus Merinowolle vom
Eisregen durchnäßt, der Saum schwer vom Schlamm. Schon
damals hatte er geglaubt, daß sie Elliott umgebracht
hätte; noch ehe dessen Ausbleiben bekanntgeworden war; ehe man
begonnen hatte, den Fluß abzusuchen. Er glaubte es noch immer;
und man hätte es seinem roten, schuldbewußten Gesicht
angesehen, wenn er bei der Totenfeier neben ihr durch die Kirche
geschritten wäre. Aber wenigstens hätte er sie in eine
sichere Ecke geleitet und vor dem Geschwätz der Städter
bewahrt; wenn auch nicht vor ihren Gedanken. Möglicherweise
dachten sie ebenfalls, sie habe Elliott getötet; zumindest aber
dachten sie, daß sie keinen Stolz besaß… und damit
hatten sie gewiß recht.
Sie hatte ihr bißchen Stolz in jener Nacht verloren, als sie
auf der Insel auf Elliott gewartet hatte. Sie hatte nicht einmal
darüber nachgedacht, was es bedeutete, als sie sich
einverstanden erklärt hatte, ihn zu treffen. Sie hatte nur daran
gedacht, ihre wärmsten Kleider zum Schutz gegen den
Novemberregen zu tragen; den schwarzen Merinomantel, den schwarzen
Wollumhang und die kräftigen Stiefel. Und erst, nachdem sie
mehrere Stunden lang im Regen unter der Eiche gestanden hatte, deren
kahle Äste keinen Schutz vor dem Wind und der hereinbrechenden
Dämmerung geboten hatten, war ihr die Schrecklichkeit dessen,
das zu tun sie im Begriff war, bewußt geworden. Wenn er
kommt, muß ich nein sagen, hatte sie gedacht, während
ihr der Winterregen von der undichten Haube troff.
Er hatte nicht daran gedacht, Victoria fallenzulassen, wie er sie
hatte fallenlassen. Victoria war zierlich und hübsch und hatte
einen wohlhabenden Vater. Die Heirat war für Weihnachten
angesetzt gewesen. Man hatte nach Victorias Bruder geschickt, dem
Freund des Bräutigams, der zur Zeit auf See war, damit er den
Trauzeugen spielte. Elliott hatte nicht einmal die Freundlichkeit
besessen, ihr von seiner Verlobung zu berichten. Ihr Vater hatte es
ihr beibringen müssen. »Nein«, hatte sie gesagt; und
als sie dieses Wort aussprach, hatte sie geglaubt, daß es wahr
sei, weil sie es niemals in der ganzen Zeit, seit sie Elliott liebte,
über sich gebracht hatte, nein zu ihm zu sagen.
War das der Grund gewesen, aus dem sie eingewilligt hatte, ihn auf
der Insel zu treffen? Weil sie noch immer nicht nein sagen
gekonnt hatte, selbst, wenn dieses Unvermögen ihren Untergang
bedeutet hätte? Es hatte keine Rolle gespielt. Er war nicht
gekommen. Sie hatte fast die ganze Nacht gewartet; und als sie sich
endlich nach Hause geschleppt hatte, bis auf die Knochen
durchgefroren, war ihr klar gewesen, daß sie es nicht
fertiggebracht hätte, nein zu sagen, wenn er gekommen wäre.
Sie hatte nicht über ihn wütend sein können; und als
sein Boot gefunden worden war, hatte sie auch keinen Kummer
empfunden. Sie fühlte rein gar nichts, und das ermöglichte
ihr jetzt, mit Mr. Finn in den vorderen Teil der Kirche zu gehen;
trockenen Auges, ohne die Röte der Scham auf den Wangen.
Aber ich kann nicht; kann nicht hier sitzen und Victoria ins
Gesicht sehen, dachte sie. Sie hat mir nie etwas
getan.
Es war zu spät, durchs Kirchenschiff zurück nach hinten
zu gehen. Ganz in ihrer Nähe befand sich eine Seitentür,
durch die jetzt der Pfarrer eintrat. Diese Tür führte
über einen Gang zum Umkleideraum des Kirchenchors und in die
Sakristei. Von der Sakristei aus führte eine weitere Tür in
den Hof neben der Kirche. Wenn sie sich beeilte, konnte sie auf
diesem Weg entkommen, ehe Reverend Sprague die Familie
hineinbrachte.
Entkommen. Wie würde es wohl aussehen? Die Mörderin, von
Schuld überwältigt? Die abgehalfterte Liebste, von Reue
oder Kummer überwältigt? Es ist bedeutungslos, was die
Leute denken, dachte Anne. Ich kann es Victoria nicht
antun.
Sie legte ihre behandschuhte Hand auf die Rückenlehne der
Bank vor ihr. Hinter ihr bemühte sich ein Mann, sein lautes
Husten hinter der vorgehaltenen Hand zu dämpfen. Anne zog ihr
Taschentuch aus dem Muff und hielt es sich vor den Mund. Sie hustete
zweimal, machte eine Pause, hustete nochmals, erhob sich und schritt
rasch zu der Seitentür.
Sie schloß die Tür hinter sich und eilte den
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