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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Namen
rief.
    »Anne? Miss Lawrence? Bitte, warten Sie doch.«
    Sie drehte sich um. Die Stimme gehörte Victoria Thatcher;
deren hübsche graue Augen vom Weinen gerötet waren. Sie
umklammerte ein kleines schwarzes Gebetbuch. »Ich möchte
Ihnen sagen, wie sehr ich Ihnen danke, daß Sie gekommen
sind«, sagte sie.
    Plötzlich empfand Anne Zorn über das
tränenüberströmte Gesicht und die sanften Worte des
Mädchens. Er liebt dich nicht, hätte sie um ein Haar
gesagt. Er hat mich bei Nacht auf der Insel treffen wollen; und
ich bin zu ihm gegangen. Jetzt ist er im Umkleideraum und wartet auf
mich. Er ist nicht tot; aber ich wünschte, er wäre es; und
du solltest es dir ebenfalls wünschen.
    »Ihre Freundlichkeit ist mir sehr teuer«, sagte Victoria
unsicher. »Ich… Mein Vater mußte ausgerechnet jetzt
nach Hartford gehen, um dort irgendwelche Interessen Elliotts zu
vertreten; und ich habe hier keine Freunde. Elliotts Vater war die
Güte selbst, aber es geht ihm nicht gut; und ich… Es war
sehr freundlich von Ihnen, herzukommen. Bitte, tun Sie noch mehr
Gutes und kommen Sie doch zum Tee, wann immer es Ihnen möglich
ist.«
    »Ich…«
    Victoria nagte an ihrer Lippe und senkte den Kopf, dann blickte
sie wieder auf und sah Anne ins Gesicht. »Ich weiß, was
über Elliotts Tod geredet wird. Und ich glaube nicht an dieses
Gerede; ich möchte, daß Sie das wissen. Ich weiß,
daß Sie ihn nicht…« Sie verstummte und schlug die
Augen wieder zu Boden. »Ich weiß, daß Sie für
seine Seele beten; ebenso wie ich.«
    Er hat gar keine Seele, dachte Anne. Du solltest
für deinen Vater und für dich selbst beten. Und was ist es
denn, was du nicht glaubst? Daß ich ihn ermordet habe? Oder
daß ich ihn auf der Insel getroffen habe?
    Victoria sah wieder zu Anne auf; ihre grauen Augen waren
tränenerfüllt. »Bitte; wenn auch Sie Elliott geliebt
haben, ist das nur ein weiterer Grund, weshalb wir Freunde sein
sollten; jetzt, nachdem er von uns gegangen ist.«
    Aber er ist nicht von uns gegangen, dachte Anne voller
Verzweiflung. Er sitzt im Umkleideraum und lacht bei der
Vorstellung, wie wir hier stehen. Er ist nicht tot; aber ich
wünschte, er wäre es. Zu deinem Besten. Zum Besten von uns
allen.
    »Danke für Ihre Einladung zum Tee«, sagte Anne und
ging rasch davon.
    * * *
    Anne ging nach dem Abendbrot zur Kirche. Sie trug in braunes
Papier gewickelten Schinken und Kuchen bei sich.
    Elliott saß im Dunkeln. »Ich mußte warten, bis
Vater mit dem Essen fertig war«, sagte Anne und zündete die
Kerze an. »Ich mußte mich aus dem Haus
schleichen.«
    Elliott grinste. »Es ist wohl nicht das erste Mal, hab’
ich recht?«
    Sie legte das Päckchen neben den Kerzenleuchter auf die Bank.
»Du kannst nicht hierbleiben«, sagte sie.
    Er öffnete das Päckchen. »Mir gefällt es ganz
gut hier. Es ist wenigstens trocken; ein wenig zu kalt, aber sonst
recht gemütlich. Ich bekomme gutes Essen, und du erfüllst
meine Wünsche. Wenn ich wieder auferstehe, wird man wenig genug
Freudentränen vergießen. Warum also sollte ich nicht
hierbleiben?«
    »Dein Vater hat sich ins Bett gelegt.«
    »Aus lauter Freude? Hat sich die hinterbliebene Verlobte
ebenfalls in ihr Bett begeben? Sie hat sich nie in das meine
gelegt.«
    »Victoria kümmert sich um deinen Vater. Ihr eigener
Vater ist nach Hartford gegangen, um sich um deine Angelegenheiten zu
kümmern. Du kannst sie nicht in dem Glauben lassen, daß du
tot bist.«
    »Aber gewiß kann ich das. Ich muß es sogar.
Wenigstens bis Victorias Vater meine Schulden beglichen hat. Und bis
du dafür bezahlt hast, daß du nicht zu unserer Verabredung
auf der Insel gekommen bist.«
    »Es ist nicht recht, so zu handeln, Elliott«, sagte sie.
»Ich werde es erzählen.«
    »Das glaube ich nicht«, erwiderte er. »Denn in
diesem Fall müßte ich allen erklären, daß ich
gar nicht auf dem Fluß war, sondern in deiner Begleitung einen
geheimen Weg genommen habe. Und was wird dann mit meinem armen
bettlägrigen Vater und meiner reichen Victoria geschehen? Nein,
du wirst nichts erzählen.«
    »Ich werde nicht wiederkommen«, sagte sie. »Ich
werde dir dein Abendessen nicht bringen.«
    »Damit der Pfarrer einst mein Gerippe findet? Oh, du wirst
schon wiederkommen, meine süße Anne.«
    »Nein«, erwiderte Anne. »Ich werde es nicht
tun.« Sie ließ die Tür unverschlossen, in der
Hoffnung, daß er es sich anders überlegen würde; aber
sie nahm den Schlüssel mit. Für den Fall, dachte
sie, ohne sich über die Bedeutung

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