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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Gang entlang. Sie fröstelte in dem dünnen Seidenkleid unter
dem leichten Cape.
    »Lasset uns beten«, sagte Reverend Sprague, und sie
mußte feststellen, daß sie sich in Kopfhöhe fast
unmittelbar bei der Familie befand. Deren Mitglieder standen als
trauriger kleiner Haufen beisammen, die Köpfe gesenkt; Victoria
und ihr Vater und der Vater Elliotts. Das Gesicht von Elliotts Vater
war grau; er stützte sich schwer auf seinen Rohrstock. Seine
Augen waren offen und starrten blind auf die Mauer.
    Anne zog sich hastig in den Gang zurück und eilte zum
Umkleideraum. Die Tür war verschlossen, aber im Schloß
stak ein mächtiger Schlüssel. Sie drehte ihn herum; in
ihrer Hast verursachte sie lautes Klappern. »Amen«,
hörte sie Reverend Sprague sagen; es gelang ihr, den
Schlüssel herumzudrehen; sie öffnete die Tür und
schlüpfte in den Raum. Darin war es sehr dunkel.
    Anne tastete an der Wand nach einem Wandleuchter. Sie stieß
mit dem Fuß gegen etwas und beugte sich nieder. Es war ein
Kerzenleuchter in einem metallenen Halter. Darin lagen zwei
Phosphorstreichhölzer; Anne riß eines an, entzündete
die Kerze und sah sich noch auf den Knien im Raum um.
    Er sah aus, als sei er seit Jahren nicht benutzt worden. Reverend
Sprague hielt Talare und sonstigen »Papisten-Putz« nur an
Weihnachten für angebracht. Die schwarzen Talare hingen stark
verstaubt an Wandhaken. Zwei schwarzlackierte Kirchenbänke
standen an der Wand, außerdem mehrere hölzerne
Stühle.
    Anne stand auf, klopfte den Staub vom Saum ihres Kleides und ging
mit dem Leuchter in Richtung Tür. Die Orgel hatte zu spielen
angefangen.
    Anne blies die Kerze aus und stellte den Leuchter in einer der
staubigen Kirchenbänke ab und lauschte.
    Die Orgel verstummte und setzte wieder ein, und Anne hörte
gedämpft den Gesang der Gemeinde. Sie tastetet sich zur Tür
und öffnete sie einen Spaltbreit, um sich zu vergewissern,
daß niemand im Gang war. Dann stahl sie sich hinaus und drehte
den Schlüssel wieder um. Die Orgel quälte sich zum Amen
durch.
    Anne rannte beinahe den Gang hinab.
    Sie war fast an der Tür, als sie den Mann erblickte. Er war
eben hereingekommen und hatte sich umgedreht, um die Tür leise
hinter sich zu schließen. Anne erkannte ihn nicht. Er hatte
rötlich-braunes Haar unter seiner weichen, dunklen Kappe, und
trug einen kurzen, dunklen Mantel und schwere Stiefel. Es ist
Victorias Bruder, dachte Anne, und sie wartete auf ihn.
    Er schien einige Schwierigkeiten mit der Tür zu haben. Es sah
aus, als gelänge es ihm nicht, sie zu schließen; und als
er sich schließlich aufrichtete, konnte Anne anhand eines
dünnen Lichtstreifens erkennen, daß die Tür noch
immer nicht ganz geschlossen war.
    Der Mann wandte sich um.
    »Elliott«, sagte Anne.
    Er lächelte entwaffnend. »Du siehst aus, als
hättest du einen Geist gesehen«, sagte er. »Habe ich
dich erschreckt?« Er hörte sich an, als gefiele ihm diese
Vorstellung.
    Die Orgel setzte erneut ein.
    »Elliott«, sagte Anne.
    Er schien sie nicht zu hören. Sein Blick fiel in Richtung
Chorraum. Unter dem dunklen, geöffneten Mantel trug er ein
weißes Seidenhemd und eine schwarze Damastweste. Anne
mußte an ihren eigenen verdorbenen Mantel denken.
Schließlich war er nicht zu ihrer Verabredung gekommen. Er
hatte sie die ganze Nacht über im Regen auf der Insel
stehenlassen. Er hatte sie alle im Glauben gelassen, er sei tot.
    »Wo bist du gewesen?« flüsterte sie.
    »Fort«, erwiderte er leichthin. »Als du nicht
gekommen warst, habe ich beschlossen, nach Hartford zu gehen. Was
geht darinnen vor? Eine Totenfeier?«
    »Deine Totenfeier«, erwiderte sie. Sie brachte nur ein
Flüstern hervor. »Wir dachten, du seiest ertrunken. Man hat
den Fluß abgesucht.«
    »Ich habe Totenfeiern schon immer genossen«, sagte
Elliott, als hätte er sie nicht verstanden. »Die weinende
Angetraute, der verzweifelte Vater; und der Pfarrer, der die Tugenden
des Verblichenen in den Himmel preist. Gibt es auch Blumen?«
    »Blumen?« echote Anne verdutzt. »Sie haben das Boot
gefunden, Elliott. Es war völlig auseinandergebrochen.«
    »Natürlich gibt es Blumen. Treibhauslilien. Victorias
Vater wird sie den ganzen Weg aus New York herkommen lassen haben. Na
schön, wir können es uns ja leisten. Sag’ mir nur
eines: Sind die hübschen grauen Augen der kleinen Vicky rot vom
Weinen?«
    Anne gab ihm keine Antwort. Er wandte sich unvermittelt von ihr
ab. »Wenn du mir nichts erzählen willst, werde ich wohl
selbst

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