Brandwache
nachsehen müssen.« Er begann, den Gang
hinunterzugehen. Seine Stiefel machten einen schrecklichen Lärm
auf dem Holzfußboden.
»Du darfst dort nicht hineingehen, Elliott«, sagte Anne.
Sie machte eine zögernde Geste, ihm die Hand auf den Arm zu
legen, zog sie aber wieder zurück.
Elliott wandte sich rasch um und starrte ihr ins Gesicht.
»Erst kommst du nicht zu unserer Verabredung auf der Insel, und
jetzt hältst du mich von meiner eigenen Beerdigung ab. Und doch
hast du niemals nein gesagt, wann immer wir uns auf der Insel
getroffen haben… auf unserer Insel… im letzten Sommer;
stimmt es nicht, meine süße Anne?«
»Ich habe die Verabredung eingehalten…«, stammelte
sie. »Ich habe die ganze Nacht gewartet… Ich… Elliott,
dein Vater ist zusammengebrochen, als er die Nachricht hörte.
Sein Herz…«
»… könnte zu schlagen aufhören, wenn er mich
zu Gesicht bekommt. Es würde mir Spaß machen, das zu
sehen. Wie du siehst, meine süße Anne, hast du mir nur
einen Grund mehr geliefert, weshalb ich meiner Beerdigung beiwohnen
sollte. Es sei denn, du versuchst, mich für dich selbst zu
behalten. Ist es so, Anne? Tut es dir jetzt leid, daß du nicht
zu unserer Verabredung auf die Insel gekommen bist?«
Sie dachte unglücklich: Ich kann ihn nicht aufhalten. Ich
war nie fähig, ihn von dem abzuhalten, was er tun
wollte.
Er hatte sich wieder umgewandt und war schon fast an der Tür
zum Kirchenraum.
»Warte«, sagte Anne. Sie rannte so ungestüm zu ihm,
daß sie die Tür zum Umkleideraum streifte. Der
Schlüssel fiel klappernd aus dem Schloß, und die Tür
schwang auf.
Elliott blieb stehen und betrachtete den Schlüssel, der
zwischen ihnen auf dem Boden lag. »Du wolltest mich in ein
Versteck sperren und ganz für dich servieren; hab’ ich
recht?«
»Du darfst nicht hineingehen, Elliott«, wiederholte sie
hartnäckig. Sie stellte sich seinen Vater vor, schwer auf den
Stock gestützt; das gebeugte Haupt Victorias; und Elliotts
leichtherziges Lächeln, wenn er in den Chorraum ginge, um sie zu
begrüßen. »Ihr seht aus, als hättet ihr einen
Geist erblickt«, würde er leichthin sagen und zusehen, wie
die Farbe aus seines Vaters Gesicht wiche.
»Ich lasse dich nicht gehen«, sagte sie.
»Wie willst du mich aufhalten?« erkundigte er sich.
»Hast du vorgehabt, mich in diesem Umkleideraum einzusperren und
in der Nacht zu mir zu kommen; so, wie du im letzten Sommer auf die
Insel gekommen bist? Wenn du dich so sehr nach mir sehnst… wie
könnte ich dir da widerstehen? Also gut, meine süße
Anne; schließ’ mich ein.« Er trat durch die Tür
und blieb mit übermütigem Lächeln im Raum stehen.
»Es ist zwar bedauerlich, daß ich nicht zu meinem eigenen
Begräbnis gehen kann… aber ich tu’ es dir zuliebe,
Anne.«
Die Orgel war wieder verstummt, und in der plötzlichen Stille
kniete Anne nieder und hob den Schlüssel auf.
»Elliott…«, sagte sie zögernd.
Er kreuzte die Arme vor der Brust. »Du willst mich für
dich allein haben. Dann sollst du mich haben. Niemand – nicht
einmal Vicky – wird erfahren, daß ich hier bin. Es wird
allein unser Geheimnis sein, meine süße Anne. Ich werde
dein Gefangener sein, und du wirst zu mir kommen.« Er zeigte auf
die Tür. »Schließ’ mich ein, Anne. Die
Totenfeier ist schon fast vorbei.«
Anne blickte auf den mächtigen Schlüssel in ihrer Hand.
Aus dem Sanktuarium erschollen unvermittelt laute Musik und Singen.
Anne sah unbehaglich zur Tür ins Kircheninnere. In wenigen
Augenblicken würde Reverend Sprague sie öffnen.
»Du wirst doch kommen, nicht wahr, Anne?« drängte
Elliott. Er hatte sich an die Wand gelehnt. »Du wirst es doch
nicht vergessen?«
»Dort auf der Bank steht ein Kerzenhalter«, sagte Anne
und schloß ihm die Tür vor der Nase. Sie drehte den
Schlüssel im Schloß, zog ihn ab; und dann – weil ihr
sonst nichts einfiel – steckte sie ihn in ihren Muff und eilte
zu der Nebentür.
Sie war zu spät dran. Die Leute strömten bereits durch
die Flügeltür und traten auf das tote braune Gras des
Vorhofes. Der schneidende Wind verfing sich hinter der Tür und
schlug sie zu. Alle blieben stehen und starrten zu Anne hinauf.
Anne schritt durch ihre Reihen hindurch, als wären sie Luft;
sie dachte nicht darüber nach, wie sie den Kopf hielt, oder wie
sie in ihrem grauen Cape und der Schuldbewußtsein
signalisierenden Basthaube wirkte. Sie hörte nicht einmal die
leichten Schritte hinter ihr, bis sie eine sanfte Stimme beim
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