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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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selbst umgebracht«, sagte Daisy. »Sie
hat uns zu meiner Großmutter in Kanada geschickt und sich
danach umgebracht. Und deshalb glaube ich – wenn wir alle tot
sind – daß ich in die Hölle gekommen bin. So
muß die Hölle sein, oder nicht? Daß man mit dem
konfrontiert wird, das man am meisten befürchtet hat.«
    »Oder mit dem, das man liebt. Oh, Daisy«, sagte er und
legte sanft die Hand auf ihre. »Warum sollen wir uns in der
Hölle befinden?«
    Völlig überrascht sah sie ihm direkt in die Augen.
»Weil die Sonne nicht mehr da ist«, sagte sie.
    Seine Augen verbrannten sie; verbrannten sie. Blind tastete sie
nach dem weißgedeckten Tisch, aber der Raum hatte sich
verwandelt. Sie konnte den Tisch nicht finden. Ron zog sie neben sich
auf die Couch. Er hielt noch immer ihre Hand und drückte sie an
sich; da erinnerte sie sich.
     
    Sie waren fortgeschickt worden, um sie vor der Sonne zu
schützen. Daisy war ganz froh darüber, daß sie fort
mußte. Mutter war ständig wütend über sie
gewesen. Sie hatte Daisy jeden Morgen beim Frühstück im
verdunkelten Wohnzimmer aufgefordert, ihr ihre Träume, zu
erzählen. Mutter hatte lichtundurchlässige Vorhänge
über den Jalousien angebracht, damit kein Lichtstrahl eindringen
konnte; und in dem blauen Zwielicht war nicht einmal durch die
Schlitze der Jalousien Licht auf Mutters furchtsames Gesicht
gefallen.
    Die Strände waren völlig menschenleer. Mutter hatte
nicht zugelassen, daß Daisy ohne Hut und Sonnenbrille
hinausging; nicht einmal ins Gemüsegeschäft. Sie hatte sie
nicht nach Kanada fliegen lassen wollen. Sie hatte Angst wegen der
Magnetstürme gehabt, die gelegentlich den Radioempfang von den
Türmen störten. Mutter hatte Angst gehabt, daß das
Flugzeug abstürzen würde.
    Sie hatte sie in der Eisenbahn fahren lassen, ihnen auf dem
Bahnhof den Abschiedskuß gegeben und in der Erregung des
Augenblicks sogar die langen, stauberfüllten Lichtbalken
übersehen, die durch die gewölbten Fenster des Bahnhofs
hereinfielen. Daisys Bruder war vor ihnen auf den Bahnsteig
hinausgegangen, und Mutter hatte Daisy unversehens in eine dunkle
Ecke gezogen. »Was ich dir erzählt habe… Über
deine Periode… Es wird jetzt nicht geschehen. Die
Strahlung… Ich habe den Arzt angerufen; er hat gesagt, daß
wir uns keine Sorgen deswegen machen sollten. Es ist bei jedermann
so.«
    Wieder fühlte Daisy das schwache Zerren der Angst in sich.
Ihre Periode hatte Monate später eingesetzt; dunkel und blutig;
genau, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte niemandem davon
erzählt. »Ich mache mir keine Sorgen«, hatte sie
damals gesagt.
    »Oh, meine Daisy«, war ihre Mutter ausgebrochen,
»meine Daisy in der Sonne«, und es hatte so ausgesehen, als
wiche sie in die Dunkelheit zurück. Aber als sie aus dem Bahnhof
gefahren waren, war sie in den prallen Sonnenschein hinausgekommen
und hatte gewinkt.
    Im Zug war es wundervoll gewesen. Die wenigen Reisenden waren in
ihren Abteilen hinter den vorgezogenen Rouleaus geblieben. Im
Speisewagen hatte es keine Rouleaus gegeben; keine Leute, die Daisy
hätte auffordern können, aus der Sonne zu gehen. Sie hatte
im menschenleeren Speisewaggon gesessen und aus den breiten Fenstern
geschaut. Der Zug war durch Wälder gefahren, durch
ausgedünnte, wirre Wälder aus dürren Kiefern und
Espen. Die Sonne war über sie geblitzt… Sonne, dann
Schatten, dann wieder Sonne… waren ihr übers Gesicht
geflackert. Sie und ihr Bruder schwelgten in einer Orgie mit
Milchshakes und Desserts, und niemand hatte ihnen hineingeredet.
    Ihr Bruder hatte ihr laut aus seinen Büchern über die
Sonne vorgelesen. »Weißt du, wie es im Zentrum der Sonne
aussieht?« hatte er gefragt. Ja; Man steht mit Eimerchen und
Schäufelchen und die nackten Zehen in den Sand gebohrt dort;
wieder zum Kind geworden; und blinzelt ohne Furcht in die Sonne
empor.
    »Nein«, hatte sie erwidert.
    »Sogar die Atome können im Mittelpunkt der Sonne nicht
ihren Zusammenhalt bewahren. Sie sind derart dicht gedrängt,
daß sie alle die ganze Zeit über
zusammenstoßen… bumm, bumm, bumm… ungefähr so;
und die Elektronen fliegen von den Kernen fort und schwirren frei
umher. Manchmal gibt es einen Zusammenstoß, und ein
Röntgenstrahl wird frei, der whushhh! mit
Lichtgeschwindigkeit davonschießt; wie ein Ball in einem
Flipper. Bing-bang-bing… bis zur
Sonnenoberfläche.«
    »Weshalb liest du diese Bücher überhaupt? Um dir
selbst einen Schrecken einzujagen?«
    »Nein. Um Mom einen

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