Brandwache
befühlen.
Sie wartete auf ihn an dem mit weißem Damast gedeckten Tisch
des Speisewaggons. Er hielt an der Tür inne, stand einen Moment
lang dort von dem Ascheflockenschnee umrahmt, und kam dann
unbekümmert und singend hereingeschlendert.
»Daisy, Daisy, schenk mir deine Theorie«, sang er. Er
trug einen Ballen roten Stoff in den Armen. Der Stoff wickelte sich
ab, als David den Ballen Großmutter reichte – die auf dem
Sessel stand, vor Freude erstarrt; die Papierschnipsel und das gelbe
Meßband Fielen unwiderruflich von ihr ab.
Daisy trat vor ihn.
»Daisy, Daisy«, sagte er übermütig. »Sag
mir…«
Sie legte ihm die Hand vor die Brust. »Es ist keine
Theorie«, sagte sie. »Ich weiß es.«
»Alles, Daisy?« Er schenkte ihr ein unbeschwertes
ironisches Lächeln; und sie dachte traurig, daß sie selbst
mit ihrem Wissen nicht fähig war, ihn als das zu sehen, was er
war, sondern nur als den Jungen, der in der Gemüsehandlung
gearbeitet hatte; den Jungen, der alles gewußt hatte.
»Nein, aber ich glaube schon, daß ich das
weiß.« Sie hielt die Hand fest gegen seine Brust
gedrückt, auf den flammenden Reifen seiner Brust. »Ich
glaube kaum, daß wir noch Menschen sind. Ich weiß nicht,
was wir sind… Vielleicht Atome, denen die Elektronen abhanden
gekommen sind, und die im Inneren der Sonne endlos miteinander
kollidieren, während die Sonne selbst zu Asche verbrennt; in dem
endlosen Schneesturm ihres Herzens.«
Er gab ihr keinen Hinweis. Sein Lächeln war noch immer
selbstsicher und unbeschwert. »Was ist mit mir, Daisy?«
fragte er.
»Ich glaube, du bist mein goldener Bär; mein flammender
Reifen; ich glaube, du bis Ra, dessen Name ewig ist, und der alles
weiß.«
»Und wer bist du?«
»Ich bin Daisy, die die Sonne geliebt hat.«
Er lächelte nicht; sein spöttischer Gesichtsausdruck war
unverändert. Aber seine gebräunte Hand schloß sich
über ihrer, die noch gegen seine Brust gestemmt war.
»Was werde ich jetzt sein? Ein Röntgenstrahl, der im
Zickzack den langen Weg zur Oberfläche zurücklegt, um sich
dort in Licht zu verwandeln? Wohin wirst du mich mitnehmen, nachdem
du mich genommen hast? Zum Saturn, dessen eiskalte Ringe die Sonne
bescheint, bis sie glückselig zerschmelzen? Ist’ das der
Ort, den du jetzt bescheinst, der Saturn? Wirst du mich dorthin
mitnehmen? Oder werden wir für immer hier stehenbleiben; werde
ich mit Eimerchen und Schäufelchen hier stehen und zu dir
emporblinzeln?«
Bedächtig schob er ihre Hand von sich fort. »Wohin
möchtest du denn, Daisy?«
Großmutter stand noch auf ihrem Sessel und hielt das Tuch in
der Hand, als bedeute es Seligkeit. Daisy griff nach dem Gewebe und
befühlte es, wie sie es in dem Augenblick getan hatte, als die
Sonne zur Nova geworden war. Sie lächelte zu ihrer
Großmutter empor. »Es ist wunderschön«, sagte
sie. »Ich bin froh, daß du es endlich bekommen
hast.«
Unvermittelt beugte sie sich zum Fenster hin und zog die
verschlossenen Vorhänge beiseite, als glaubte sie, ihr
würde vielleicht eine Vision zuteil, weil sie eine Wissende war;
als wäre es ihr vielleicht vergönnt, sich selbst als
kleines Mädchen zu sehen; mit der Klein-Mädchen-Brust und
dem Klein-Mädchen-Bauch… Als könnte sie sich dort
sehen, wo sie sich wirklich befand: Daisy in der Sonne. Aber das
einzige, das sie sehen konnte, war der endlose Schnee.
Ihr Bruder saß auf der blauen Couch in Mutters Wohnzimmer
und las. Sie blickte auf ihn hinunter und sah ihm beim Lesen zu.
»Jetzt fürchte ich mich«, sagte Daisy; aber es war
nicht das Gesicht ihres Bruders, das zu ihr hochsah.
Auch gut, dachte Daisy. Keiner von ihnen ist eine Hilfe.
Es spielt keine Rolle. Ich habe dem, das ich fürchte, von
Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden; und ebenso dem, das
ich liebe; und es ist dasselbe.
»Also gut«, sagte Daisy und wandte sich wieder Ron zu.
»Ich möchte gerne eine Fahrt machen. Mit heruntergeklapptem
Verdeck.« Sie hielt inne und blinzelte zu ihm hoch. »Ich
liebe die Sonne«, sagte sie.
Als er ihr den Arm um die Schulter legte, wich sie ihm nicht aus.
Seine Hand schloß sich um ihre Brust, und er neigte sich ihr
zu, um sie zu küssen.
Der Samariter
Einführung
Einige der Erzählungen in der Bibel sind wirklich alt.
Einige Bibelforscher glauben, daß sich Teile der Genesis bis in
die Bronzezeit zurückverfolgen lassen, aber ich glaube,
daß sie noch weit älter sind. Nehmen Sie die Geschichte
von Esau und Jakob:
Isaak wollte, als er
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