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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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auf. Er ging durch
die Menschenmenge im blauen Wohnzimmer und durch die Tür in den
Schnee hinaus. Daisy versuchte nicht, in ihr Zimmer zu gelangen. Sie
beobachtete sie alle; die Fremden in ihrer endlosen, zufälligen
Bewegung; ihren Bruder, der beim Gehen las; Großmutter, die auf
einem Sessel stand… und die Erinnerung kam ganz leicht und ohne
Schmerz über sie.
     
    »Willst du mal etwas sehen?« fragte ihr Bruder.
    Daisy sah aus dem Fenster. Den ganzen Tag über hatten die
Lichter geflackert, obwohl draußen alles still und reglos
gewesen war. Großmutter war in die Stadt gegangen, um sich zu
erkundigen, ob der Stoff für die Vorhänge angekommen
war.
    Daisy gab David keine Antwort.
    Er schob ihr das Buch vor die Augen. »Das hier ist eine
Eruption«, sagte er. Die Bilder waren schwarzweiß, wie bei
Schnappschüssen aus früheren Zeiten, nur, daß
anstelle Mutters unordentlicher Schriftzüge in weißer
Tinte ›High Altitude Observatory, Boulder, Colorado‹
darunter stand.
    »Dabei handelt es sich um Ausbrüche heißer Gase,
die viele hundert Kilometer hoch geschleudert werden.«
    »Nein«, erwiderte Daisy, nahm das Buch entgegen und
legte es auf ihren Schoß. »Das ist der goldene Reifen. Ich
habe ihn in meinen Träumen gesehen.«
    Sie blätterte um.
    David beugte sich über ihre Schulter und zeigte auf ein
Photo. »Das war die große Eruption von
Neunzehnhundertsechsundvierzig, als die Sache angefangen hat; nur,
daß man es damals noch nicht ahnte. Die ausgeschleuderte
Sonnenmaterie wog eine Milliarde Tonnen. Das Gas erreichte eine
Höhe von fast zwei Millionen Kilometer.«
    Daisy hielt das Buch fest, wie einen Schnappschuß eines
geliebten Menschen.
    »Es machte nur blaff, und all das Gas schoß ins
All hinaus. Es wurden alle Arten von…«
    »Es ist mein goldener Bär«, sagte sie. Die
große Pranke aus Feuer langte träge aus dem schwarzen
Hintergrund der Photographie heraus; die wilde, zärtliche Tatze
flammender Gase.
    »Das sind die Dinge, von denen du geträumt hast?«
fragte ihr Bruder. »Das sind die Dinge, die du mir erzählt
hast?« Seine Stimme wurde immer höher und höher.
»Und ich dachte, du hättest gesagt, deine Träume seien
angenehm.«
    »Das waren sie auch«, erwiderte Daisy.
    Er nahm das Buch aus ihrem Schoß, blätterte es
wütend durch, bis er ein bestimmtes farbiges Diagramm auf dem
schwarzen Hintergrund gefunden hatte. Es stellte einen
glühendroten Ball mit konzentrischen Kreisen im Inneren dar.
»Hier«, sagte er und zeigte Daisy die Abbildung. »Das
ist, was mit uns passieren wird.« Er stieß wütend mit
dem Finger auf einen der Kreise im Inneren des roten Balles.
»Das sind wir. Das sind wir! Inmitten der Sonne! Träum
davon, hörst du?« Er schlug das Buch zu.
    »Aber dann sind wir alle tot, deshalb spielt es keine
Rolle«, sagte Daisy. »Es wird nicht wehtun. Wir werden uns
an nichts erinnern.«
    »Das glaubst du? Du denkst, du wüßtest alles. Aber
du weißt überhaupt nichts. Ich habe ein Buch darüber
gelesen, und weißt du, was darin stand? Man weiß nicht
einmal, was das Gedächtnis ist. Man hält es für
möglich, daß es sich nicht einmal in den Hirnzellen
befindet. Man hält es für möglich, daß es
irgendwo in den Atomen aufgezeichnet ist; und in diesem Fall
könnte dein Gedächtnis selbst dann noch funktionieren, wenn
du in lauter Atome zerblasen worden bist. Was ist, wenn wir von der
Sonne verbrannt werden und uns noch immer erinnern können? Was
ist, wenn wir immer weiterbrennen und weiter; und uns erinnern und
immer weitererinnern?«
    Daisy erwiderte ruhig: »Das würde er nicht tun. Er
würde uns nicht verletzen.« Sie hatte keine Furcht
empfunden, als sie dort gestanden und die Zehen in den Sand gegraben
und zu ihm aufgesehen hatte; nur Staunen. »Er…«
    »Du bist verrückt!« rief David aus.
»Weißt du das? Du bist verrückt. Du sprichst
über ihn, als wäre er dein Freund oder sowas! Es ist die
Sonne, die wundervolle Sonne, die uns alle umbringen wird!« Er
entriß ihr das Buch. Er weinte.
    »Tut mir leid«, hatte Daisy sagen wollen; aber soeben
kam Großmutter herein, ohne Hut, das Haar flatterte ihr um das
schmale, sonnengebräunte Gesicht.
    »Sie haben den Stoff hereinbekommen«, sagte sie jubelnd.
»Ich habe genug für alle Fenster gekauft.« Sie leerte
zwei Säcke voller rotem Gingan. Das Gewebe quoll über den
Tisch wie Nordlichter; über und über rot. »Ich dachte
schon, ich würde es nie bekommen.«
    Daisy griff nach dem Stoff, um ihn zu

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