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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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alt und blind geworden war, sein Erbe und
seinen Segen an Esau, seinen Erstgeborenen, weitergeben, der als
»rot, über und über wie ein Fellkleid«
beschrieben wird. Aber sein jüngerer Bruder Jakob scheint ein
»glatter Mann« gewesen zu sein, der Esau um den Segen ihres
Vaters betrog, indem er Ziegenfelle »über seine Hände
und über die Glattheit seines Nackens« legte und
derart den blinden Mann irreführte.
    Jakob scheint uns auf unheilvolle Weise ähnlich gewesen zu
sein; wer aber ist sein roter und haariger Bruder, dem wir das Erbe
gestohlen haben? Und wird er uns vergeben?

Die Bewohner dieses Landes entzünden bei ihren
Streifzügen durch die Wälder an jenen Orten Feuer, an
welchen sie die Nacht zubringen; und am Morgen, wenn sie
fortgezogen sind, kommen die Pongoes (Orang-Utans) heran und
setzen sich in die Nähe des Feuers, bis es ganz erloschen
ist; denn sie besitzen nicht genug Verständnis, um das Holz
nachzulegen.
    (Andrew Battell, 1625)
     

Reverend Hoyt wußte sofort, was Natalie wollte. Seine
Hilfspastorin klopfte an die halboffene Tür seines
Arbeitszimmers und kam dann hereingesegelt; Esau zog sie an einer
Hand hinter sich her. Das triumphierende Lächeln auf ihrem
Gesicht war ein deutlicher Hinweis auf das, was sie zu sagen
hatte.
    »Reverend Hoyt, Esau möchte Ihnen etwas sagen.« Sie
wandte sich an den Orang-Utan. Er stand aufrecht, in einer Haltung,
von der Reverend Hoyt wußte, daß sie ihn viel Mühe
kostete. Er reichte Natalie fast bis zur Schulter. Sein untersetzter,
vierschrötiger Körper war beinahe vollständig mit
langem, sorgfältig gebürstetem, kastanienbraunem Haar
bedeckt. Oben auf dem Kopf hatte er dagegen nur wenige Haare, die er
mit Wasser an den Kopf geklatscht hatte. Sein breites Gesicht,
abgegrenzt und überschattet durch die Backentaschen, war so
teilnahmslos wie gewohnt.
    Natalie versuchte, ihm etwas durch Gesten mitzuteilen. Er blieb
aber reglos stehen, die langen Arme hingen schlaff herunter. Natalie
wandte sich erneut Reverend Hoyt zu. »Er möchte getauft
werden! Ist das nicht wundervoll? Sag es ihm, Esau.«
    Er hatte es kommen sehen. Reverend Natalie Abreu, zweiundzwanzig
Jahre alt und erst seit einem Jahr aus Princeton entlassen,
vollbrachte ein gottgefälliges Werk nach dem anderen. Sie hatte
die Sonntagsschule herausgeputzt, das Kummerkastenressort
übernommen und Richtlinien für die priesterliche Kleidung
entworfen, die Reverend Hoyts Presbyterseele entrüsteten. Heute
trug sie eine Soutane mit Schleppe und einer rot- und goldbestickten
und mit Fransen besetzten Stola. Es mußte Pfingsten sein. Sie
war gedrungen und trug kurzgeschnittenes braunes Haar. Sie ging ihren
offiziellen Pflichten wie ein verirrter Chorknabe nach, in ihren
lächerlichen Roben und Chorhemden und Meßgewändern.
Jetzt hatte sie auch noch Esau übernommen.
    Als sie hier angekommen war, hatte sie die American Sign Language
nicht beherrscht. Reverend Hoyt kannte selbst nur das
unerläßliche Minimum an Zeichen; »ja« und
»nein« und »komm her«. Die meisten Aufgaben, mit
denen er Esau zu betrauen beabsichtigte, hatte er in pantomimischer
Form vorgeführt. Er hatte Natalie aufgefordert, sich den
Grundwortschatz anzueignen, damit sie besser mit dem Orang-Utan
kommunizieren konnte. Sie hatte jedoch das gesamte Ameslan-Handbuch
auswendig gelernt. Sie paukte mit Esau täglich mehrere Stunden
lang und erzählte ihm mit fliegenden Fingern biblische
Geschichten und half ihm beim Lesen.
    »Woher wissen Sie denn, daß er getauft werden
möchte?«
    »Er hat es mir gesagt. Sie wissen, daß wir letzten
Sonntag Konfirmandenunterricht abhielten; da fragte er mich über
die Konformation aus; und ich sagte: ›Jetzt sind sie die Kinder
Gottes; Mitglieder der Familie Gottes.‹ Und Esau sagte:
›Ich möchte auch so gerne Gottes geliebtes Kind
sein.‹«
    Es war beinahe beunruhigend, Natalies Übersetzung dessen zu
hören, was Esau gesagt hatte. Sie wandelte, was eindeutig
unbeholfene und fragmentarische Sprache war, in Rhapsodien von
Adjektiven, Satzgefügen und Bedeutungen um. Es war, als
betrachte man einen dieser ausländischen Kinofilme, in denen der
Hauptdarsteller ganze Abhandlungen von sich gab, die der Untertitel
in einem lapidaren »So ist das« zusammenfaßte, dessen
Bedeutung verborgen blieb. Natürlich verhielt es sich im
vorliegenden Fall andersherum. Esau hatte durch Zeichen etwas
angedeutet, das »Mich mögen sein Kind Gott«
geheißen haben mochte – wenn überhaupt – und
Natalie

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