Brandzeichen
ihn in eine Art meditative Trance zu versetzen. Diane hatte ihn einmal gefragt, woran er denke, wenn er diese Bilder anschaue.
»Ich versuche, mir vorzustellen, was in ihnen vorgeht. Woran denkt die junge Frau, als man ihr diesen Brief überreicht? Welche Karte zeichnet dieser Geograph gerade, und wo ist er überall gewesen?«
Diane hatte Gregorys Angewohnheit angenommen, ein wundervolles Kunstwerk zu betrachten, wenn sie sich eine Pause von einer besonders grauenvollen Arbeit gönnte, und sie hatte diese Gewohnheit beibehalten, auch nachdem sie die Menschenrechtsuntersuchungen aufgegeben hatte. Heute freute sie sich auf die beruhigende Formenwelt der Muschelschalen.
Erst in ein paar Stunden würde die lichtschwächere Nachtbeleuchtung eingeschaltet werden. Die Beleuchtung eines Museums war eine Wissenschaft für sich. Da Licht zwar notwendig, aber auch schädlich war, hatte sie einige Mitarbeiter eingestellt, die sich um diese ganz spezifischen Lichtprobleme in den unterschiedlichen Abteilungen kümmerten. Während der Nacht wurde die Lichtstärke zurückgefahren. Gleichzeitig waren dann die meisten Lampen in der Nähe des Bodens eingeschaltet, damit niemand über ein Ausstellungsstück stolperte. Natürlich könnte sie die Umschaltung verzögern, aber sie würde das nicht nur zum eigenen Vergnügen tun.
Das RiverTrail-Naturkundemuseum war in einem dreistöckigen Granitgebäude aus dem 19. Jahrhundert untergebracht. Seine großen Ausstellungsräume wiesen hohe Kuppeldecken, polierte Granitböden, Holztäfelungen, Bronzearmaturen und wundervolle Wandmalereien von Dinosauriern auf.
Mit ihrem Generalschlüssel schloss sie den Eingang zum Westflügel auf, in dem die Abteilung für Wassertiere lag. Der Wachhabende am Informationsschalter begrüßte sie mit einem Nicken. Diane lächelte ihm zu. Sie warf einen Blick auf den Brachiosaurus im Dinosaurier-Saal, bog dann nach links ab und ging direkt zu dem Raum hinüber, in dem die Schalen von Meerestieren ausgestellt waren.
Diese Schalen waren die Gehäuse und Knochen von Mollusken, Weichtieren, die hauptsächlich im Wasser lebten, die meisten davon im offenen Meer. Das Museum besaß eine wohl bestückte Sammlung, die einen guten Überblick über die insgesamt mehr als 50 000 Arten bot.
Wenn man den Code dieser Schalen zu lesen verstand, konnte man wie im Falle der Knochen die Geschichte des jeweiligen Tiers rekonstruieren. Obgleich das Pigmentmuster einer Schale hauptsächlich genetisch festgelegt wurde, so hing dessen spezifische Ausprägung doch auch von dessen Lebensgeschichte ab. Selbst innerhalb einer Art wiesen keine zwei Exemplare dasselbe Muster auf. Eine Molluske vergrößerte ihre Schale an deren Rand, so wie die Knochen an den Epiphysen wuchsen. An diesen Wachstumsrändern wurden auch die Farbmuster festgelegt. Was immer diesen Mollusken zustieß – Nahrungsüberfluss, Nahrungsmangel, Verletzungen, Temperaturänderungen –, hatte Auswirkungen auf diese Muster. Die Mollusken trugen ihre Lebensgeschichte quasi auf dem eigenen Rücken. Ein Computermonitor im Ausstellungsraum erläuterte den Prozess. Diane hatte dessen Programm in der Entwicklungsphase der Abteilung so oft ansehen müssen, dass sie heute darauf verzichtete.
Sie blieb einige Zeit vor der Vitrine stehen, die der Bedeutung der Muschelschalen für den Menschen gewidmet war, um wieder einmal die afrikanischen Halsbänder aus Kaurimuscheln, den Perlmuttschmuck sowie die Muschelschalen zu bewundern, in die Indianer aus dem Südosten der Vereinigten Staaten religiöse und zeremonielle Symbole eingeritzt hatten.
Danach amüsierte sie sich über die kitschigen Muschelsouvenirs aus Florida. Das auf seine Weise beeindruckendste Stück dieses gehobenen Kitsches hatte erst vor kurzer Zeit Dianes stellvertretende Direktorin Kendel Williams erworben: ein vergoldeter Salzstreuer in Form eines Hahns, der aus der Schale eines Kammerschalennautilus hergestellt worden war.
Die Nachbarvitrine befasste sich mit dem Thema »Mathematik der Muschelschalen«. Sie war nicht gerade ein Besuchermagnet, aber Diane mochte sie genauso wie alle Mathematiklehrer der näheren und weiteren Umgebung. Auf Schulausflügen brachten sie oft ihre Klassen hierher, um mit ihnen die Videoerklärung der Spiralform des Kammerschalennautilus zu verfolgen, die auf der Fibonacci-Zahlenfolge beruhte. Das Video zeigte danach, dass Tannenzapfen, Sonnenblumen, Spiralgalaxien, der Tanz der Bienen und selbst das Parthenon auf dieselben
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