Brandzeichen
von diesen unendlichen Reihen von neuen Puppen. Diese Träume haben dann für eine lange Zeit aufgehört, aber jetzt haben sie wieder angefangen. Ich weiß auch nicht, warum. Und ich weiß nicht, warum ich Angst vor ihnen habe.«
»Was verstehen Sie unter neuen Puppen?«, fragte Laura.
»Puppen, die noch in ihrer Schachtel sind«, sagte Juliet. »Was kann das bedeuten?«
»Das kann ich noch nicht sagen«, antwortete Laura. »Aber wir finden es heraus. Das Gedächtnis funktioniert manchmal recht eigenartig. Ich habe eine Freundin, die bei dem Namen
Louise
immer an
Essig
denken muss.«
Diane musste lächeln. Das war sie. Sie hatte das Laura erzählt, als sie noch Kinder waren. Laura hatte offensichtlich wirklich ein gutes Gedächtnis!
»Essig?«, fragte Juliet erstaunt.
»Das Wort
Louise
klang für sie wie
Essig
. So hat sie es mir wenigstens erklärt. Vielleicht begegnete sie als kleines Kind jemandem namens Louise, der Essig verschüttete, und die Assoziation blieb dann hängen. Es ist allerdings wahrscheinlicher, dass sie die Wörter
Louise
und
Essig
zur gleichen Zeit lernte und sie deshalb an der gleichen Stelle ihres Gehirns abgespeichert hat. Vielleicht gibt es dafür aber auch einen ganz anderen Grund.«
»Meine Erinnerungen finde ich ziemlich frustrierend«, sagte Juliet. »Sie ergeben überhaupt keinen Sinn.«
»Frühe Erinnerungen sind nicht immer genau«, sagte Laura. »Als ich klein war, besaß ich ein Bilderbuch, das ich besonders mochte. Auf einer der Abbildungen waren ein roter Ball und rote Tapeten zu sehen. Wenn ich bis zum heutigen Tag eine bestimmte Sorte von roten Tapeten sehe, erinnere ich mich an dieses Buch. Dasselbe gilt für eine bestimmte Art Ball. Vor einiger Zeit habe ich meinen Dachstuhl aufgeräumt und dabei dieses Buch gefunden. Ich habe darin diesen Ball und diese Tapeten gesucht und dabei zu meiner Überraschung festgestellt, dass die Zeichnungen viel grober und die Farben weit weniger lebhaft waren, als ich sie in Erinnerung hatte. Die Zeichnungen in dem Buch waren fast kindlich, aber in meiner Erinnerung waren sie raffiniert und fein ausgeführt.«
»Wie kann so etwas passieren?«, fragte Juliet. »Ich dachte, Erinnerungen seien wie in Stein gemeißelt, wenn sie einmal im Langzeitgedächtnis abgespeichert wurden.«
»Nein. Ihre Erinnerungen ändern sich mit der Zeit, wenn sich Ihr Gehirn weiterentwickelt oder Leute und Ereignisse Sie beeinflussen. Manchmal hat man Ihnen etwas erzählt, und Ihr Hirn hat daraus eine eigene Geschichte gemacht. Wenn Ihnen Ihre Eltern und Verwandten jahrelang erzählen, Sie seien als Kind in einen Bach gefallen und fast ertrunken, werden Sie nach einiger Zeit ›echte‹ Erinnerungen daran entwickeln, vor allem wenn Sie den Bach einmal selber gesehen haben, wo dieses Ereignis angeblich stattgefunden hat. Genau das passierte meiner Cousine. Jahre später hat sie dann herausgefunden, dass es einer anderen Cousine und nicht ihr geschehen war. Als Erwachsene erinnerte sie sich aber ganz deutlich an dieses Ereignis, obwohl sie es tatsächlich gar nicht erlebt hatte. Manchmal verwechseln die Leute auch ihre Träume mit realen Erinnerungen. Deswegen werden wir über Ihre Träume ein andermal reden.«
»Und wie wollen wir da überhaupt etwas herausfinden?«, fragte Juliet.
»Es ist tatsächlich ziemlich schwierig, frühe Erinnerungen zu sichten«, sagte Laura. »Aber wir schaffen das schon. Ich habe da ein paar Ideen.«
Hier war die Bandaufzeichnung zu Ende. Diane war froh darüber. Es bereitete ihr Unbehagen, Juliet über diese peinigenden Erinnerungen reden zu hören. Sie hatte den Schmerz in Juliets Stimme klar erkennen können. Die tiefsten Ängste eines Menschen waren etwas in höchstem Maße Persönliches. Diane nahm den Kopfhörer ab und dachte noch eine Zeitlang über die ganze Sache nach.
»Ich weiß nicht, wie Laura erwarten kann, dass ich mit solch spärlichen Indizien ein zwanzig Jahre altes Verbrechen aufkläre«, flüsterte sie vor sich hin. »Ich muss verrückt gewesen sein, mir so etwas aufzubürden.«
Diane schaute auf die Uhr. Es war Zeit heimzugehen. Sie verschloss die Informationen über Juliets Fall in ihrem Schreibtisch und ging ins Nachbarbüro, um sich von Andie zu verabschieden.
»In letzter Zeit haben wir gar keine Schmähanrufe mehr bekommen«, sagte Andie. »Was immer Sie unternommen haben, es hat gewirkt.« Sie lächelte über beide Ohren.
Diane erwiderte das Lächeln mit gemischten Gefühlen.
Patrice Stanton glaubt,
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