Brann 01 - Seelentrinkerin
der am selben Tag wie sie Geburtstag hatte, sollte seinen Hundertsten nun doch nicht mehr erleben. Lathan, Sindary, Fearlian, Frin, Tislish, Millo ... und so weiter und so fort, ihre Namen ergaben eine lange Litanei des Grams, ein ganzes Sterbeverzeichnis für sich. Brann verstand die Vorgänge nicht. Warum? Was hatte man davon? Warum? Sie sah Krieger in die Häuser gehen und herauskommen, jeden ins Freie treiben, der sich zu verbergen versucht hatte, die Wohnbauten und Werkstätten plündern, viel mehr zerstören, als sie an Beute wegschleppen konnten. Weshalb? Von welcher Art waren diese Männer, daß sie so etwas tun konnten? Sie sah mit an, wie einige von ihnen Ohm Cynoc, den diesjährigen Dorf Sprecher, traten und prügelten, ihn anschrien, es ging um Gold, wo Arth Slyas Gold sei, wollten sie wissen. Er bemühte sich, ihnen klarzumachen, daß sie schon sämtliches Gold hatten, jene winzigen Mengen, die Inar, Idadro und Migel für Einlegearbeiten und Verzierungen brauchten. Sie hörten nicht auf ihn. Als sie es müde geworden waren, ihn zu mißhandeln, rammte ein Krieger ihm ein Schwert in den Leib, man ließ ihn liegen und verbluten. Sie schaute mit an, wie eine andere Rotte Krieger eine Anzahl Frauen, darunter auch ihre Mutter, vom Tanzplatz zerrten. Das Kinderpaar versuchte, sie von der Felskante wegzuziehen, aber sie klammerte sich ans Gestein, regte sich nicht vom Fleck, sah dem zu, was die Eindringlinge drunten mit ihrer Mutter und den anderen Frauen trieben. Sie wimmerte, aber wollte den Blick nicht von der Verwüstung wenden, sie sah Morden und Schlimmeres, einige so willkürliche und sinnlose Gewalttaten, daß sie sie als unwirklich empfand, derartig unwirklich, daß sie fast erwartete, die Toten würden sich erheben und den Schauplatz verlassen, so wie es bei den Magischen Schlachten anläßlich der Tagundnachtgleichen geschah, jenen Kampfspielen, die mit Tanz die ganze Nacht hindurch, Kesseln erwärmten Apfelweins und am nächsten Tag einem Fest endeten. Diese Toten jedoch blieben tot, lagen da wie blutüberströmte Puppen, bar jeder Spur von Leben.
Nacht breitete sich übers Tal, verhüllte vieles davon, was sich auch dann noch drunten zutrug, doch dämpfte sie nicht die Geräusche und Laute, die hinauf zur Felskante und an Branns Ohren drangen. Sie lauschte voller Schaudern, so wie sie vorher voller Schaudern zugesehen hatte. Wieder versuchten die beiden Kinder, sie vom Rand der Steilwand fortzubringen, aber sie ließ es nicht zu, und das Paar schaffte es nicht, sich gegen ihre Weigerung durchzusetzen. Die ganze Nacht lang lag sie an der Felskante und lauschte, auch als es nichts mehr zu hören gab, nur noch bedrückendes Schweigen herrschte.
Unter der Oberfläche ihrer Betäubung wuchs in ihrem Innern Entschlossenheit. Dafür, was vorgefallen war, mußte es einen Grund geben. Ihrem Gedächtnis hatte sich eine prächtige Gestalt eingeprägt, die sich von der düstereren, in Braun und Schwarz gehaltenen Gewandung der übrigen Krieger abhob, ein Mann mit blutrotem Umhang und geflügeltem Goldhelm. Er hatte durch ein Nicken seine Zustimmung zur Schändung von Branns Mutter sowie der restlichen Frauen erteilt, er hatte die Plünderung der Häuser und Werkstätten überwacht, hatte dabeigestanden, während man die Dorfbewohner in Achtergruppen aneinanderband, am Ende in die Versammlungshalle sperrte, um sie dort die Nacht verleben zu lassen, so gut sie es konnten. Er weiß den Grund, überlegte Brann, ich muß ihn dazu zwingen, ihn mir zu sagen, irgendwie werde ich ihn zum Reden bringen.
Im Lauf der Nacht, die sich endlos hinzuziehen schien, ließen Yaril und Jaril Brann mehrmals allein, kehrten aber jedesmal nach kurzer Frist wieder. Dumpf war sich Brann ihrer Ausflüge bewußt, doch mangelte es ihr an Antriebskraft, um sich bloß die Frage zu stellen, wohin sie gehen mochten. Zusammengeduckt harrte sie aus, wo sie sich befand, und wartete — worauf, darüber besaß sie keinerlei Klarheit, weder grübelte sie, noch empfand sie irgend etwas, sie war einfach nur vorhanden, so wie es Stein gab. Während sich Tau niederschlug, wurde es ihr sehr kühl, aber nicht einmal die Kühle durchdrang die inwendige Taubheit, die sie zurückhielt, wo sie weilte.
Die Nacht färbte sich grau, dann rot. Einige Krieger betraten die Versammlungshalle, holten zweimal acht Frauen heraus, darunter auch Branns Mutter. Brann strengte die Augen an, um durch den Morgendunst etwas zu erkennen. Hose und Bluse ihrer Mutter waren
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