Brann 02 - Blaue Magie
drückte die Kugel an ihren Leib und umklammerte sie mit beiden Händen. Trago hockte auf der Truhe und trommelte mit beiden Fersen dagegen. »Komm, Kori, es ist hier oben nicht feucht. Und kalt auch nicht. Bring die Laterne mit.«
Kori besah sich die Kristallkugel und blickte dann über die Schulter hinüber zur Laterne. Sie fühlte sich wegen der Truhe unwohl, aber es war Tre, der hier das Sagen hatte; er gehörte an diesen Ort, sie hingegen war ein Eindringling. Indem sie die Kugel nur noch mit einer Hand hielt, trug sie die Laterne zu der Tafel, zauderte ein, zwei Atemzüge lang, immerhin lange genug, um Tre zum Schneiden einer ungnädigen Miene zu veranlassen, doch dann schaffte sie es, sich auf die Steinplatte zu schwingen, ohne daß Laterne oder Kristallkugel ihr entfielen. »Bist du sicher, daß man das darf, Tre?«
Er nickte, grinste ihr zu. »Es ist gar nicht so schlimm, Kori, ich meine, ein Priester zu sein. Ich darf hier drin alles tun, was ich will. Ahm ...« Sein Grinsen wich. »Ich hoffe, es geht schnell, wir müssen zurück, ehe Xera Chittar merkt, daß wir weg sind.«
»Ich weiß. Halt mal!« Als er die Laterne in Gewahrsam hatte, hockte sich Kori auf die Platte, setzte sich im Schneidersitz mit dem Rücken an die Truhe. An ihrem Hemd rieb sie die Kristallkugel blank und nahm sie zwischen die Hände. »Erst muß man die innere Stille finden«, sagte sie, »aus dieser Stille erhält man den Willen zum Sehen, und dadurch gelingt das Sehen.« Sie schloß die Lider und versuchte alles Hinderliche aus ihrem Denken zu verdrängen; schon nach wenigen Atemzügen jedoch begriff sie, daß sie damit keinen Erfolg erzielen würde; aber die Kindertante hatte ihr etwas beigebracht, um besser einschlafen zu können, wenn Körper und Geist keine Ruhe fanden und sie nicht schlummern ließen. Bei diesem Verfahren malte man sich geistig eine Zufluchtsstätte aus, stellte sie sich Stück für Stück, in allen Einzelheiten — mitsamt Beschaffenheit, Gerüchen, Farben, Bewegungen — genau vor. Als sie ungefähr fünf Jahre alt gewesen war, hatte sie sich so eine sichere geistige Zuflucht geschaffen gehabt, sie war ihr seither stets nützlich gewesen, sie flüchtete dorthin, wenn man sie bestrafte, sie auf jemanden wütend war, sich gekränkt oder ganz einfach mies fühlte, dorthin floh sie, als ein kleiner Vetter an einem Knochen erstickte und in ihren Armen starb, und ebenso beim Tod ihrer Mutter; sie tat es, wenn sie das Bedürfnis verspürte, in aller Ruhe gründlich nachzudenken. Diese Zufluchtsstätte befand sich in halber Höhe der alten Eiche, in einer Astgabelung, an der drei dicke Äste vom Stamm abzweigten. Sie polsterte die Mulde der Astgabelung mit abgestorbenem Laub und Distelwolle und baute ein Nest, ganz wie ein Vogel. Versteckt war es und warm, nichts Böses konnte ihr jemals darin zustoßen, sie spürte die großen Äste sich langsam, gewichtig wiegen wie Arme, die sie schaukelten, sie roch den durchdringenden, aber wohligen Duft der Blätter, die noch an ihren Stielen hingen, hörte sie säuseln, bis sie das Raunen des Baums fast verstand. Jetzt zog sie sich gleichfalls an diesen geistigen Unterschlupf zurück, mit allem Nachdruck, dessen sie fähig war, schirmte sie sich dort ab, sperrte Furcht, Unsicherheit und Not aus, bis sie sich von neuem auf den großen Gliedern des Baumes gewiegt fühlte und mit einem Stück Mondlicht in den Händen auf den Armen des Baums saß. Sie blickte in die Kugel, in ihr silbernes Herz, fand in der Stille ihres Innern den zum Sehen erforderlichen Willen. »Die Seelentrinkerin«, flüsterte sie in die Kugel, und ihre Stimme unterschied sich kaum vom Rauschen des Eichenlaubs. »Zeige sie mir! Wo ist sie?«
Im Silberherzen der Kristallkugel entstand ein Bild. Es zeigte ein altes Weib, das das weiße Haar zu einem dicken, stark zerzausten Knoten auf dem Kopf geflochten hatte. Die Ärmel hatte es hochgerollt und weiße, kräftige Unterarme entblößt. Die Greisin hackte Holz, zerhieb es mit sauberen, schwungvollen Axtschlägen, von denen jeder traf; jeder Hieb fiel genau so, wie sie es wollte, und die Sparsamkeit und Sicherheit ihrer Bewegungen verrieten die Gewohnheit langer, langer Jahre des Holzhackens. Sie stellte die Axt beiseite, machte aus den Holzscheiten ein Bündel und trug es zu einem wie ein Meiler aufgeworfenen Brennofen. Sie öffnete die Feuerungsklappen des Brennofens, schob das Holz hinein, warf weitere Bündel Scheite hinterher und umrundete den Ofen, bis
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