Brann 03 - Das Sammeln der Steine
du wolltest so schnell wie möglich befreit werden.«
»Und dann?« Ihr Bruder sah noch wie der sechsjährige Knabe aus, als den der Magier Settsimaksimin ihn mit einem Schlafzauber belegt hatte; seitdem hatte sich an dem Knaben kein Härchen verändert. Hingegen hatte sich sein Gemüt mit Gewißheit gewandelt. Diese Frage hat keinerlei Ähnlichkeit mit dem Gejammer eines kleinen Bübchens, dachte Korimenei. Soviel Bitterkeit klingt darin mit. »Soll ich nach der Pfeife des Angeketteten Gottes tanzen?« brauste Trago auf. »Nein!«
»Ich wüßte nichts, was du dagegen tun könntest.«
»Was glaubst du wohl, weshalb ich dich soviel mit den Großen Talismanen beschäftigt habe?«
»Ich mochte danach nicht fragen. Man weiß ja nicht, wer oder was uns belauscht.«
»So?« In dem einen Wörtchen schwang bissige Gehässigkeit mit, ein Anflug von Ungnädigkeit.
»Was meinst du?«
»Benutz dein Gehirn, Kori! Falls er lauscht, muß bereits das Fragen allein ihm alles enthüllen, was er wissen will.«
»Wie können wir dann überhaupt irgend etwas unternehmen?«
»Falls, Kori. Hast du mir nicht zugehört? Falls. Jetzt hör zu. Er hat BinYAHtii, er hat ihn, nachdem Brann und die Blauen Settsimaksimin bezwungen hatten, in seinen Besitz gebracht, aber ich weiß nicht, wie gut dieser Besitz ihm bekommt, der Stein ist schwer zu meistern, auch wenn man ihn regelmäßig nährt.« Trago verstummte. Sein Körper bewegte sich nie; dennoch glaubte Kori zu spüren, wie ihn ein Schaudern durchfuhr. »Er hat ihn genährt. Ich möchte darüber nicht sprechen. Er ist ein Gott. Ich habe keine umfassende Kenntnis vom Ausmaß seiner Macht, doch sicherlich hat sie Grenzen, andernfalls hätte er wohl Settsimaksimin zermalmen können, ohne mit der Wimper zu zucken. Hör zu, hör mir zu, stimmt es nicht, daß der alte Maksim, solang er BinYAHtii um den Hals trug, Amortis nach Belieben scheuchen konnte? Und ich habe bemerkt, in welche Unruhe Amortis ihn versetzte. Darum habe ich mir überlegt: Könnte ich mir den richtigen Talisman verschaffen, wäre ich dazu imstande, mich gegen ihn zu wehren, ihn mir vom Hals zu halten. Und ebenso dir.
Korimenei schloß die Lider, preßte die Lippen aufeinander. Sie brachte es nicht übers Herz, ihm daraus einen Vorwurf zu machen — jedenfalls nicht ernsthaft —, und es war ihre Schuld, daß er in jener Höhle feststak, doch er hatte so offenkundig erst nachträglich an sie gedacht, daß es sie kränkte. Es tat ihr regelrecht weh. Eine verspätete Rücksichtnahme von grausamer Rücksichtslosigkeit. O Götter und Gurken, ich bin eine Worteschmiedin, so schlecht wie Maks, und außerdem kann ich nicht einmal so laut wie er brüllen.
Ihr Zwangsaufenthalt an der Schule stand kurz vor der Beendigung. Heute morgen war der Bote Paji in den Übungshof gelaufen gekommen und hatte Kori mitgeteilt, sie sollte morgen nach der zweiten Schicht bei Shahntien Shere vorsprechen. Den Grund hatte er nicht genannt, das wäre auch überflüssig gewesen. Zweifellos ging es um Koris Abschlußprüfung. Schon tagelang hatte Kori in innerer Anspannung gelebt, ständig auf Shahntien Sheres Entscheidung gewartet, welcher Art die Prüfung sein und wann sie stattfinden sollte. Vielleicht würde sie morgen, am übernächsten oder überübernächsten Tag vollzogen werden; danach würde sie frei sein, die Schule verlassen dürfen. Sobald Shahntien Shere sie ziehen ließ, gedachte sie Trago aufzusuchen, sie wollte möglichst rasch zu der Höhle, in der ihr Bruder schlief — eingeschreint in Kristall — und der Erlösung durch sie harrte; sie hatte vor, nach dem Abgang von der Schule sofort dorthin aufzubrechen, nicht erst nach einer Zeitspanne unabsehbarer Dauer, während der sie irgendeinen Unfug verrichten sollte, den Trago unterdessen ausgeheckt hatte. Konnte nach so vielen Jahren des Eingesperrtseins in den Kristall sein Verstand überhaupt noch vollauf klar sein? Drei, fast vier Jahre lang war er von allem Äußeren abgeschlossen gewesen. Dann war es ihm gelungen, seine Seele weit genug zu befreien, um mit ihr in geistige Verbindung zu treten. Seither waren nochmals sechs Jahre verstrichen, und er befand sich noch heute zu nicht mehr imstande, als ihr auf geistiger Ebene gewissermaßen über die Schulter zu gucken. Hält er auch an anderen Orten Umschau? Sieht er genauso durch die Augen noch anderer Menschen? Es erschreckte Kori, als sie eine Anwandlung von Neid empfand. »Was wünschst du, Tre? Willst du wirklich, daß ich für
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